Im Visier des Todes
Kram.« Ruckartig stand die Mutter auf. Der Tisch wackelte, das Messer auf dem Teller bebte klirrend. »Du hast nicht einmal gefragt, wie es mir geht. Was soll’s. Ich … ich glaube, ich habe keinen Appetit mehr.«
Leah senkte den Kopf und drückte ihre Stirn in die Handballen. Die Schritte stampften durch den Flur, dann wurde die Eingangstür geöffnet. Ein metallisches Klappern erklang, als die Mutter die Zeitung aus dem Briefkasten zerrte. Schließlich entfernten sich die Schritte. Im ersten Stock knallte eine Tür.
Und was jetzt? Wieder nur das Schweigen und das Veilchen-Nachthemd jenseits des Schlüssellochs?
Leah wusste nicht, wie lange sie so dasaß, bis sie sich zwang aufzustehen. Aus dem Schrank holte sie einen Becher und goss Kaffee hinein. Nach einer Nacht im Auto würde Kay einen Muntermacher am Morgen bestimmt nicht ausschlagen. Mit beiden Händen umschloss sie die Wärme und trug die Tasse nach draußen. Bis zur Gartenpforte. Ehe sie bemerkte, dass der Mustang nicht mehr da war.
Gedankenverloren nippte sie an dem Kaffee. Spülte ihre Bitterkeit mit Bitterkeit fort, ging langsam zurück. Erst da bemerkte sie auf dem Fußabtreter ein Handy. Ihr Handy. Das sich in der Handtasche befunden hatte, die sie bei der Entführung verloren hatte.
Sie hob es auf, schaltete es ein. Das Display zeigte ein neues Hintergrundbild. Dunkelheit, ihre Silhouette, auf dem Boden liegend, gefesselt. Dazu eine Überschrift.
Böse Mädchen enden hier.
20
»Zeig mir, dass du es kannst.«
Mach die Wirklichkeit zur Kunst, nicht zum blanken Abbild einer kranken Fantasie. Diese Hände haben die Macht, ein Leben in die Freiheit zu entlassen. Oder es auszulöschen.
Gibt es etwa keine reine Seele mehr, die das Wahre sieht und den gerechten Worten zuhört? Was für eine Welt! Verrat und Lüge sind ihre Begleiter.
Der Blick verirrt sich in den Bildern, in dem einzig Echten. Erschrecken sollen sie, aufwühlen, beschämen. Überall liegen sie verstreut und schreien den Schmerz hinaus. Geben das Leid preis, das von diesen Händen erschaffen wurde. Und doch sind sie nur ein entseelter Abklatsch der wahren Kunst. Die in einem sauberen Stapel auf dem Beifahrersitz wie auf einem Altar ruht, anbetungswürdig.
Kunst kommt von künstlich, von gestellt und unecht. Was haben diese anderen Fotos, was der wahre Schmerz nicht leisten kann? Welcher Funke lässt die Inspiration entflammen, die Seele nach ihnen dürsten?
» Fuck « , flüstert die Schrift auf der Tür, ruft und klagt.
Fuck, Fuck, Fuck . Die Hände zerreißen die Bilder, zerknüllen das Papier, schleudern es umher. Wie müdes Herbstlaub wirbeln die Fetzen und senken sich in den Schoß, auf die Brust, das Gesicht.
Kommt da jemand? In dieser Stunde der größten Verzweiflung? Um diese Hände zu fesseln und den Triumph der Gerechtigkeit aufzuhalten?
Nein, alles still. Es ist bloß ein Wagen, er rollt vorbei und parkt in der Nähe. Der trügerische Glanz des Wohlstands, mit den weichen Lederpolstern der Sicherheit.
Dem Wagen entsteigt eine Dame. Widerstrebend setzt sie den Schuh auf den Gehweg, zupft an ihrem vornehmen Blazer. Zu fein für die Welt, die sie umgibt. Ihr Gentleman folgt ihr, säubert die Schuhsohlen an der Bordsteinkante. Töricht, seine Bemühungen, denn der nächste Hundehaufen wartet nur einen Schritt entfernt auf ihn.
Doch sie sind nicht allein gekommen. Nein, ein Kind, ein Mädchen, entspringt dem Wagen und wird von der Dame zurückgehalten. Gesittet gehen sie hin, klack-klack-klack, wie die feinen Schuhe vorschreiben, und drücken auf den Klingelknopf. Nicht wissend, dass kein Schloss ihnen den Zutritt verwehrt, dass selbiges schon lange kaputt ist.
Was erzürnt die noble Dame? Wen beschimpft bloß ihr Gentleman?
Schnell ist das Wagenfenster heruntergekurbelt, Worte schlüpfen hinein, um ihre Klagen herbeizutragen.
… diese Schlampenbude. Das nennt sich Mutter …
… Was haben wir bloß falsch gemacht? …
Ja, was haben wir falsch gemacht?, möchte man zum Himmel hinaufschreien. Vergebens sind eure Rufe.
Ein hellblondes Wesen, so zart, so verlogen, kommt aus dem Eingang gestürzt, drückt das Mädchen an ihre Brust.
Siehst du, setzt die Dame ihr nach, die Kleine weint doch schon wieder. Du tust ihr nicht gut. Ist es nicht langsam Zeit, zu erwägen, diese Besuche zu untersagen? Zum Wohl des Kindes.
Zum Wohl des Kindes .
Die Blondine schiebt es in den Hauseingang, das Paar fährt davon, und was bleibt?
Im Schoß liegt ein Foto, eines von dieser
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