Im Visier des Todes
Kunst, die nachzuahmen dem wahren Schmerz nicht gelungen ist. Es zeigt die Augen eines Jungen, es zeigt ihre Tiefen und ihre Angst.
Der Fotoapparat wiegt schwer in den Händen.
»Zeig mir, dass du es kannst.«
Zum Wohl des Kindes!
21
Die Tür der Mutter blieb verschlossen. Alle Erklärungsversuche wurmten sich in das taube Holz und zerfaserten im Ungewissen. Später brachte Leah das Essen, das sie nach den Anweisungen auf der Dose und mithilfe der Mikrowelle gegart hatte. Die Anleitung für genießbar hinzuzufügen, hatten die Hersteller allem Anschein nach vergessen. Das Essen blieb unberührt. Genauso wie der frisch aufgegossene Tee mit der Kirsch-Vanille-Note.
Leah seufzte. Es fiel ihr schwer, sich schuldig zu fühlen.
»Dann sag mir wenigstens, was du gegen Kay hast!« Das Tablett mit dem kalt gewordenen Essen bebte in ihren Händen.
Doch die Mutter sagte nichts.
Abends verzog sich Leah auf ihre zerschundene Matratze. Die Couch im Wohnzimmer mied sie. Das Polster schien noch Pouls Geruch zu beherbergen, die Wärme seines Körpers, seine Nähe. Ein wenig von seinem Ich liebe dich , das ihr Angst einjagte.
Auch am nächsten Tag strafte die Mutter sie mit Stummheit.
Irgendwann beschloss Leah, einen Einkauf zu tätigen, etwas Sinnvolles zu tun. Erst vor den dunklen Ladenfenstern fiel ihr auf, dass Sonntag war. Sie ging einfach weiter, spazierte durch die Gegend, ein ganz kleines bisschen wie durch Venedig, immer wieder überrascht, an welche Ecken sie gelangte, bis ihr Spaziergang nach Stunden endete. Piazza San Marco , wollte sie im Flüsterton hören. Ihr Gesicht in seinen Händen bergen. Den Kuss auf ihren Lippen spüren.
Doch dies war keine Piazza. Sondern der Kreisel.
An der Tankstelle kaufte sie eine Packung Butter.
Das Klingeln ihres Handys hörte sie schon unter dem Vordach ihres Hauses. Dumpf schellte es aus dem Wohnzimmer, wohin sie das Ding geworfen hatte. Es war nicht kaputt gegangen. Langsam öffnete sie die Haustür, ging in die Küche und legte die von der Wärme ihrer Hände weich gewordene Butter in den Kühlschrank. Das Handy marterte sie mit seinem Schrillen. Warum ausgerechnet dieser sägende Ton? Warum nicht Pinks So What? oder wenigstens Beethovens Für Elise ? Es klingelte sie zurück in die Dunkelheit, auf den staubigen Boden, in den süßlichen Geruch …
Der schrille Ton zerklimperte ihre Gedanken. Sie ging ins Wohnzimmer, warf die Zeitschriften und Kissen auf den Boden, lugte unter die Couch, bis sie das Telefon packte und auf » Auflegen « drückte.
Dieser Geruch …
Es klingelte erneut, vibrierte in ihrer Hand. Sie nahm ab. Führte das Telefon zum Ohr und hauchte » Hallo « in die plötzliche Stille und das krampfhafte Schluchzen am anderen Ende. Vernahm etwas Unverständliches zwischen » H-h-ffe « und » Attie « .
Sie presste das Handy fester ans Ohr. »Hallo?«
Schneller folgten » H-h-ffe « und » Attie « aufeinander, ertränkt in einem Wimmern.
»Thessa? Bist du das? Ist etwas mit Nathalie?«
Das Stottern ging in einem Weinkrampf unter.
»Thessa. Beruhige dich. Du musst dich unbedingt etwas beruhigen. Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst.«
»H-h-ffe.« Thessas Atmung beschleunigte sich, bis sie nur noch durch die Leitung röchelte.
»Hilfe. Du brauchst Hilfe, richtig?« Sie redete auf Thessa ein, ohne genau zu überlegen, was sie sagte. Redete einfach nur, damit der Klang ihrer Stimme nicht versiegte. Bis sich die Weinkrämpfe am anderen Ende etwas gelegt hatten. »Thessa, atme noch einmal tief durch. Ja, so ist es gut. Noch einmal. Jetzt versuch mir zu erklären, was passiert ist.«
»I-ich … Als i-ich … nach Hause … K-komm hier… hierher. B-bitte. Ich … «
»Ganz langsam, Thessa. Hörst du mich? Ganz langsam.«
Doch das Stottern wurde schlimmer. Leah seufzte. »Du bist zu Hause, ja? Okay. Bitte beruhige dich. Ich komme. Warte auf mich. Ich lege jetzt auf und mache mich auf den Weg zu dir. Hast du verstanden? Ich werde zu dir kommen. Okay?«
Endlich gelang es ihr, Thessa ein Ja zu entlocken. Sie drückte das Gespräch weg.
Klasse. Sollte sie Nathalie wieder von Dummheiten abhalten? Das hatte sie beim letzten Mal auch prima hingekriegt.
Sie suchte die Schlüssel des Fiats der Mutter und fand sie nicht. Genauso wenig wie das Auto selbst, das die Mutter beim vorletzten Mal im Rosenbeet eines alten Mannes zwei Straßen weiter geparkt hatte. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr, dass sie den Bus zur U-Bahn noch kriegen würde, wenn
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