Im Visier des Todes
schließlich die Gabel beiseite und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Lucia Winter wurde gebeten, das Krankenhaus zu verlassen. Allem Anschein nach hat sie verschreibungspflichtige Medikamente entwendet, was jedoch nicht zweifelsfrei bewiesen werden konnte. Bitte entschuldigen Sie mich.« Er winkte jemandem, nahm das Tablett und ging, nachdem er sich noch einmal entschuldigt und Leah guten Appetit gewünscht hatte.
Sie starrte die zerlassene Butter auf ihrem Teller an. Stimmungsschwankungen. Die Tabletten. Sie wusste nur, dass ihre Mutter sie nehmen musste. Wann hatte der Arzt sie ihr verschrieben? Hatte er das überhaupt? Sie zwang sich, eine Kartoffel zu zerteilen und ein Stück hinunterzuschlucken. Ihre Mutter brauchte Hilfe. Kay hatte das gesehen, nur sie wollte es nicht wahrhaben. Sie nahm noch ein Stück Kartoffel, das sie mit der Zunge zerdrückte und irgendwie hinunterbekam. Mehr schaffte sie nicht.
Das Handy vibrierte. Keine Nummer auf dem Display. Leah nahm ab. »Mom? Ist etwas passiert?«
Eine Pause. Kurze, gehetzte Atemgeräusche. »Ich bin es. Thessa.«
»Thessa … «
»Ich sollte dich nicht belästigen, ich weiß. Du hast schon genug für mich getan. Aber ich weiß wirklich nicht weiter. Das Krankenhaus hat mich heute entlassen. Wo soll ich hin? Ich kann nicht zurück in die Wohnung, ich kann es nicht, verstehst du?«
Leah hörte, wie Thessa geräuschvoll Luft holte, und nutzte die Pause: »Geht es dir gut? Du darfst nach Hause?«
»Leah! Verstehst du das denn nicht? Bitte! Hol mich ab. Ich kann nicht allein irgendwohin.«
»Was ist mit deiner Familie? Deinen Freunden?« Warum ich? Sie fühlte sich feige.
»Meine Familie wohnt sehr weit weg. Und Freunde mit meinem Jetset-Leben als Model … Das ist nicht leicht, Leah.«
»Jetset, ja?«
»Okay, ich habe nie viele Freunde gehabt. Wolltest du das hören? Nathalie war meine Freundin. Und Céline .« Thessa schluchzte. »Ich dachte, du würdest wissen, wie es ist. Würdest mir helfen.«
»Ich kann jetzt nicht weg. Ich habe noch einen Termin. Keine Ahnung, wie lange das dauern wird und … «
»Ich warte. Warte, solange es sein muss.« Sie stotterte eine Adresse hervor. »Bitte komm.«
Aufgelegt.
Leah drückte sich die Hände gegen die Stirn. Zu ihrer Übelkeit gesellten sich Kopfschmerzen. Die Pause würde in ein paar Minuten vorbei sein.
Noch einmal versuchte sie, Kay zu erreichen, aber seine reservierte Mailboxstimme meldete sich nur mit seinem Vor- und Nachnamen und wartete auf eine Nachricht.
Die Konferenz dauerte bis zum späten Nachmittag, und am Ende konnte tatsächlich eine Einigung erzielt werden. Auf demWeg zur Eingangshalle des Krankenhauses redete sie sich ein, dass Thessa unmöglich so lange auf sie warten würde und sich nach der anfänglichen Panikattacke am Telefon sicher längst in der Wohnung ausruhte. Trotzdem fuhr sie zu der genannten Adresse, um ihr Gewissen milde zu stimmen und sich zu beweisen, dass die letzten Ereignisse noch nicht ihre Seele getilgt hatten.
Thessa kauerte auf den Stufen des Krankenhauses. Ihre Silhouette war in der angebrochenen Dämmerung von einer Straßenlaterne beleuchtet und doch nur ein Schatten ihrer selbst. Leah blieb wenige Schritte von ihr entfernt stehen. »Du hast die ganze Zeit hier gesessen?«
Thessa zuckte zusammen, sprang auf die Beine und schloss Leah in ihre Arme. »Ich wusste wirklich nicht, wohin. Ich habe eine solche Angst!«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir helfen kann.« Thessas kurzes, zerzaustes Haar stach ihr in den Hals. Zögernd legte sie die Arme um den zitternden Körper, der sich an sie schmiegte. »Ich lebe nicht allein. Meine Mutter macht im Augenblick eine schwere Phase durch. Auf Fremde im Haus könnte sie unberechenbar reagieren.«
»Bitte, nur für diese Nacht. Ich kann nicht in die Wohnung. Nathalie ist noch da, in jedem Atemzug. Die Zimmer sind voll von ihr. Wie sie damals voll von Céline waren. Ich werde das nicht noch einmal durchstehen. Nicht allein.« Thessa schluchzte wieder. »Wer macht nur so etwas? Was habe ich getan, um das zu verdienen? Wie kann jemand so gefühllos sein, mir alle zu nehmen, die mir nahestanden?«
Leah löste sich von ihr und setzte sich auf die Stufen. »Warum hat Nathalie ihn reingelassen?«
Thessa zog die Nase hoch. »Wen?«
Nick Milla. »Den Mörder.«
»Wie kommst du darauf?«
»Die Tür trug keine sichtbaren Einbruchspuren.« Wobei das nicht viel zu bedeuten hatte. »Wer wusste, dass Nathalie allein
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