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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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auf dessen Frage, dann verkündete er laut seinen Namen und den Ort, von dem er stammte. Die Augen der Männer waren prüfend auf ihn gerichtet, denn dies war die einzige Gelegenheit für die meisten, dem neuen Namen ein Gesicht zu geben. Der junge Mann reichte dem Zeremonienmeister den kleinen roten Umschlag mit seiner Aufnahmegebühr, bevor er bedächtig weiterschritt zum Kopf des Drachens. Der mächtigste der Versammelten hielt ihm eine Schale mit rotem Wein hin, von dem er nippen musste.
    Li fühlte sich unbehaglich. Diese Zeremonie war nur noch ein schwacher Abglanz des Rituals, das er seinerzeit bei der Aufnahme durchlaufen hatte. Die Prozedur war so kurz und nüchtern, dass keine feierliche Stimmung bei ihm aufkam. Nun musste der Neue nur noch die sechsunddreißig Eide herunterleiern und er war einer der Ihren. Er erinnerte sich an jede Einzelheit der Nacht, in der er innerlich zitternd vor den Brüdern stand, wie er unter den Schwertern zur Halle der Treue und Rechtschaffenheit tänzelte, durch das dritte Tor in den Kreis des Himmels und der Erde trat, an der Feuergrube vorbei zu den Ältesten trat, sich die heroischen Gedichte anhörte, bevor er den Eid schwur und ihn mit warmem Hahnenblut und Asche besiegelte. Damals legte man großen Wert auf eine Zeremonie, die jedem, auch dem Zuschauer, Ehrfurcht und Respekt vor der Bruderschaft einflößte. Tradition zu bewahren war wichtig, und das fehlte ihm hier. Nur gerade eine Stunde dauerte es, bis die zwei Neuen zu ihrem Kreis gehörten und das Festmahl auf dem offenen Oberdeck beginnen konnte, während er damals noch die ganze Nacht um die Aufnahme gerungen hatte.
    Die Kajüte leerte sich. Nur die vier mächtigsten Brüder, Nummer 489, sein Stellvertreter, der ›Herr des Berges‹, der Zeremonienmeister und die ›Rote Säule‹, der Waffenmeister, blieben mit ihm im Halbdunkel zurück. Lebhaftes Schwatzen und Lachen drang von den Tischen draußen herein. Das war gut so. Solange die Männer aßen, kam keiner in Versuchung, heimlich zu lauschen.
    »In dieser Stunde erfüllt sich unser Schicksal«, begann der Drachenkopf feierlich. »Sobald wir beschließen wozu wir zusammengekommen sind, gibt es kein Zurück mehr. Ich möchte, dass jeder bestätigt, dass er das verstanden hat.«
    Reihum nickten die Männer und antworteten mit einem deutlichen: »Verstanden.«
    »Nummer 415 wird uns auf den neusten Stand bringen.«
    Der oberste Chef nickte ihm zu. In wohl gesetzten Worten, wie er es immer wieder geübt hatte, fasste Li den kühnen Plan, die lange Ausführung und schließlich die letzten Vorbereitungen auf den großen Tag zusammen. »Wir sind bereit«, schloss er, nicht ohne Stolz.
    Nummer 489 musterte ihn durchdringend. Nach einer kurzen Pause fragte er streng: »Gab es Schwierigkeiten?«
    Lügen war zwecklos. Der Drachenkopf wusste längst Bescheid über die Turbulenzen um die beiden Ingenieure und das unglückliche Intermezzo mit der Journalistin und dem unvorsichtigen Engländer. Er nickte deshalb sofort und sagte, was er sich zurechtgelegt hatte: »Schwierigkeiten sind bei einem Unternehmen wie diesem unvermeidlich. Es waren viele Menschen über Jahre damit beschäftigt, unsern Plan umzusetzen. Menschen haben Schwächen, aber wir haben sie ausgemerzt oder neutralisiert. Und das Werk ist vollendet.«
    Der Waffenmeister räusperte sich. Er wartete, bis der nachdenkliche Drachenkopf nickte, dann fragte er unverhohlen: »Warum lebt die Frau noch?«
    Li hätte ihn auf der Stelle erwürgen können. Die Frage, die er sich selbst täglich stellte, drängte ihn in die Defensive. Die falsche Journalistin war das einzige wirkliche offene Ende seines genialen Vorhabens. Eine eklige Fliege in der sonst so wohlriechenden Suppe. Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf ihn. Ihm blieb nichts anderes übrig, als doch noch zu flunkern. »Wir sind ihr auf den Fersen. Sie wird uns nicht mehr lange stören. Sie weiß im Grunde nichts über uns und kann unser Vorhaben in keiner Weise gefährden.«
    Die ›Rote Säule‹ warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Der Waffenmeister war nicht so leicht zu überzeugen, aber er schwieg. Li wusste, dass die andern die Gefahr nicht wirklich abschätzen konnten. Sie waren auf sein Urteil angewiesen.
    Der Drachenkopf dachte lange nach, bevor er die letzte Frage stellte: »Sind wir bereit für den großen Tag?«
    Wieder stimmte jeder Einzelne deutlich zu. Auch der Waffenmeister folgte dem Beispiel seiner Brüder nach kurzem Zögern. Li

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