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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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damals in Macao gesehen. Er war einer der stummen Kartenspieler an  Stanley Wus Tisch. Erst viel später hatte er Li offiziell kennengelernt, als Auftraggeber der speziellen integrierten Schaltkreise, an denen er nun schon vier Jahre lang arbeitete. Wie Stanley Wu musste auch Li unverschämt reich sein, oder er schwamm im Geld seines prominenten Bekannten. So genau wusste das niemand. Und Li war extrem vorsichtig. Er reiste kaum je ohne sein Einohr und die Schlange.
    Tonys Schnellfeuerwaffe lag mit Sicherheit griffbereit auf dem Beifahrersitz. Mei brauchte keine solchen Waffen. Sie hatte ihre Hände. Er kannte ihre Wirkung aus einer Begegnung in Macao, die er liebend gern aus seinem Gedächtnis streichen würde. Ob der arme Kerl, der Li damals zu nahe gekommen war, überlebt hatte, wusste er bis heute nicht.
    Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte den Boden, dass sie es durch die Stossdämpfer spürten. Der Chauffeur zuckte unwillkürlich zusammen. Ein unterdrückter Fluch, ein Tritt auf die Bremse. Der Wagen schlug einen kurzen Haken, dann hatte er das Steuer wieder unter Kontrolle. Er entschuldigte sich wortreich, ohne dass ihm jemand zuhörte. Danny hatte es nicht kommen sehen und Li ebenso wenig, wie er an seinem aschgrauen Gesicht ablas. Es blieb keine Zeit, aufzuatmen. Es blitzte und polterte gleichzeitig, noch heftiger. Die Scheiben zitterten, Regen prasselte aufs Dach, donnerte ans Glas, als hätte sie der Strahl eines Feuerwehrschlauchs erwischt. In Sekunden war das Gewitter da. Wo vorher die Straße war, rauschte ein Wildbach zu Tal. Die Naturgewalten zwangen den Tross des unbesiegbaren Herrn Li zum Stillstand mitten im Bachbett.
    Danny verfluchte die unerwartete Verzögerung im Stillen. Die ganze Reise gefiel ihm nicht. Warum musste ausgerechnet er den verschrobenen Li in diese lebensfeindliche Gegend mitten in den Schweizer Alpen begleiten? Den Job hätte auch einer seiner Ingenieure übernehmen können. Nein, für Li war nur der Chefentwickler gut genug, um diesen versteckten Tresor zu inspizieren, der selbst der Hiroshima-Bombe locker widerstehen würde, wie die Betreiber behaupteten. Eines hatte er allerdings jetzt schon gelernt: Li fürchtete Blitz und Donner. Ängstlich zusammengerollt drückte er sich in die Ecke, wagte keinen Blick aus dem Fenster. Nur eine kleine Befriedigung, aber immerhin. Die Gewitterfront zog schnell das Tal hinauf Richtung Gotthardpass. Die Abstände zwischen Blitz und Donner vergrößerten sich, doch die Felsen warfen das jähzornige Grollen vielfach zurück und hielten den Hexenkessel noch lange am Kochen. Allmählich verzogen sich die schwarzen Wolken. Ein Sonnenstrahl blitzte kurz auf. Der Tag kehrte zurück. Danny glaubte schon, der Himmel hätte sich beruhigt, als plötzlich Steine auf das Dach des Wagens polterten. Weiße Steine, so groß wie Nüsse, die schnell schmolzen auf der Kühlerhaube. Nur wenige Minuten hielt der Hagel an, doch er genügte, die Straße und die abschüssige Wiese in eine Eis- und Schneelandschaft zu verwandeln, mitten im Sommer. Hier wollte er nicht sein, und die garstige Gegend wollte sie nicht hier haben.
    Vorsichtig rollte Tonys Wagen wieder an. Die Karawane schlich langsam den Berg hinauf an den Fuß der roten Granitwand, die scheinbar senkrecht zu den Wolken emporragte. Das Sträßchen verbreiterte sich zu einer Art Ausweichstelle. Tony parkte hart an der Felswand. Er stieg aus und lotste Lis Fahrer in eine Nische neben seinem Wagen. Mei Tan stand schon auf der Straße, bereit, auch in diesem Niemandsland jeden in die Wüste zu schicken, der sich ihrem Chef näherte. Die schlichte Stahltür in der Felswand bemerkte Danny erst, als er ausstieg. Kaum fielen die Autotüren zu, wurde das Felsentor aufgestoßen. Ein hagerer Mann mit blassem Gesicht und modischer Brille in elegantem Maßanzug eilte strahlend herbei, als wären sie seine lange erwarteten Freunde. Zwei bewaffnete Uniformierte begleiteten ihn. Sie blieben in respektvollem Abstand stehen, während der Geschäftsmann Li begrüßte.
    »Mr. Li, welche Freude, Sie bei uns im Fort willkommen zu heißen«, sagte er in tadellosem Oxford-Englisch. »Ich bin Albert Weder, der Direktor von ›K23‹.«
    Li erwiderte seinen Händedruck und antwortete lächelnd: »Ah, Mr. Weder, die Freude ist ganz auf meiner Seite. Wir kennen uns ja bisher nur vom Telefon.« Er machte eine ausschweifende Handbewegung gegen die sich wieder verdichtende Wolkendecke. »Dieses Tal und die Berge mögen wohl

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