Im Winter der Löwen
dass ich eines sehe. Immer dasselbe.«
»Sie haben Recht. So war es«, sagt er.
Sie nickt.
»Möchten Sie über das Bild sprechen?«
»Nein«, sagt sie.
»Worüber möchten Sie sprechen?«
»Über die kleine Myy.«
Er schweigt, und sie lächelt. Es ist ihr gelungen, ihn zu überraschen. Sie sieht es ihm an, und es gefällt ihr.
»Gut«, sagt er. »Erzählen Sie mir von ihr.«
»Nicht von ihr, von mir«, sagt sie.
»Gut, von Ihnen. Erzählen Sie mir von sich.«
»Ich bin die kleine Myy gewesen, an dem Tag, an dem ich Ilmari kennenlernte. Ich habe im Muumintal am Strand in Naantali gearbeitet. Ein Park für Kinder. Die Welt der Muumifamilie.«
»Ich weiß«, sagt er. »Ich bin dort gewesen.«
»Haben Sie … Kinder?«
»Einen Sohn.«
»Sie haben einen Sohn?«, sagt sie. »Wie … wie alt ist er?«
»Sieben.«
Sie sieht ihn lange an, und nach einer Weile bemerkt sie, dass sie in seinem Gesicht zu lesen versucht, ob er die Wahrheit sagt. Sie wendet sich ab.
»Ich wusste nicht, dass Sie Kinder haben«, sagt sie.
»Nur ihn. Meinen Sohn. Sami.«
»Warum haben Sie das nie gesagt?«
»Sie sind die einzige meiner Patientinnen, die es weiß«, sagt er. »Es ist nicht üblich, dass ich während der Sitzungen über mich spreche. Sie haben in Muumintal gearbeitet?«
»Ja … ja, ich war die kleine Myy. Das kleine rothaarige Mädchen. In den Ferien, bevor ich mit meiner Ausbildung begann. Ich hatte in einer Theatergruppe mitgemacht, die für das Muumintal engagiert wurde. Ich war viel zu groß für die kleine Myy, aber weil ich rote Haare hatte, bekam ich die Rolle.«
»Hat es Ihnen gefallen?«
»Sehr. Es war heiß in dem Kostüm, aber am Abend bin ich immer direkt ins Wasser gesprungen, und es war …«
»Ja?«
»Es war … herrlich.«
Er schweigt.
»Es war so schön, dass ich kaum daran glauben kann, dass es wirklich passiert ist.«
»Und Sie haben damals Ilmari kennengelernt?«
»Ja. Er war mit einer seiner Gruppen da. Sie wissen ja, dass er behinderte Kinder betreut hat. Autistische Kinder.«
»Ja.«
»Die Kinder waren … ungewöhnlich. Ich kannte das nicht. Ich habe mit ihnen Spaß machen wollen, und sie haben gar nicht reagiert.«
Er nickt.
»Sie waren nicht freundlich und nicht unfreundlich, es war, als wären sie gar nicht da.«
Er nickt.
»Die Kinder waren so, wie ich mich heute fühle«, sagt sie.
»Beschreiben Sie näher, was Sie fühlen.«
»Ich möchte nicht. Ich möchte von Ilmari erzählen.«
»Dann erzählen Sie von Ilmari.«
»Er hat die Kinder betreut. War mit ihnen ins Muumintal gefahren und hat als Einziger gelacht. Über die Späße, die ich gemacht habe. Ich war ja die kleine Myy. Ich musste ja lustig sein. Dann waren sie weg. Sie sind weitergegangen, und ich musste mich um die anderen Kinder kümmern. Am Abend habe ich mein Kostüm ausgezogen, und Ilmari stand plötzlich neben mir und hat gesagt, dass die kleine Myy größer ist, als er dachte.«
Er hat den Kopf wieder zur Seite geneigt. Kaum merklich. Vermutlich weiß er es gar nicht.
»Am nächsten Tag war er wieder da. Am übernächsten wieder. Wir sind zusammen geschwommen. Das war für mich immer das Schönste. Am Abend den Schweiß vom Körper zu waschen.«
Der Kopf neigt sich zur anderen Seite.
»Ja. So hat es angefangen.«
»Irgendwann werden Sie über das Ende sprechen müssen«, sagt er.
Sein Kopf jetzt kerzengerade.
»Um neu beginnen zu können«, sagt er.
»Wer heute wohl die kleine Myy ist«, sagt sie.
Er sieht an ihr vorbei auf die Uhr.
35
Sundström und Kimmo Joentaa blieben über Nacht in Helsinki. Sie saßen sich in der leeren Lobby des Hotels gegenüber und sprachen in ihre Mobiltelefone. Sundström mit Petri Grönholm und Joentaa mit Tuomas Heinonen. Sie tauschten die Ereignisse und Ermittlungsergebnisse des Tages aus, ohne einer Erklärung näher zu kommen.
Joentaa dachte an Patrik Laukkanen, der leblos im Schnee gelegen hatte. Ein Bild, das aus der Realität herausfiel. Er schloss die Augen und dachte, dass es keine Erklärung geben konnte. Vermutlich war es ganz einfach. Es gab keine Erklärung für Bilder, die sich der Realität entzogen. Oder es gab die Erklärung nur auf der Ebene einer neuen Realität, die das Bild geschaffen hatte.
Er öffnete die Augen und sah, dass Sundström ihn anstarrte. »Alles klar?«, fragte er.
Kimmo nickte. »Ich hatte gerade einen … etwas abseitigen Gedanken«, sagte er.
»Aha«, sagte Sundström und wählte die nächste Nummer.
Joentaas Gedanken
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