Im Wirbel der Gefuehle
Sie zog jedoch ihre Einladung zurück, als sie hörte, wie schrecklich ich nun aussah, und schickte mir auch nicht das versprochene Geld für die Überfahrt. Mit nichts, ganz ohne Geld, musste ich hierbleiben, ohne die Möglichkeit, an Vergnügungen teilzunehmen, und eine armselige Hütte, die ich mit meiner alten Amme teilte, war mein einziger Unterschlupf. Ich wäre aufgrund ihrer Fürsorge vielleicht nicht draufgegangen, aber ich hatte kein Geld, einfach kein Geld, um zu meiner geliebten Mutter zu kommen.«
Er hatte sich vor sich selbst versteckt und natürlich vor Vinot, dachte Christien, er war untergetaucht und wusste nicht, wohin. Der arme Teufel konnte einem fast leidtun, wenn man nicht wüsste, dass seine Seele genauso schrecklich entstellt war wie sein Gesicht.
»Genug«, sagte Vinot in scharfem Ton, begleitet von einer eindeutigen Geste mit der Hand. »Nehmen Sie meine Herausforderung an?«
»Mit Vergnügen«, antwortete Theodore. »Wenn ich gegen einen so alten Mann nicht ankommen könnte, dann würde ich es nicht besser verdienen.«
»Ich werde allerdings nicht Ihr Gegner sein«, bemerkte Vinot mit zynischer Zufriedenheit. »Wie Sie es schon angedeutet haben, sind meine Tage als Fechtmeister gezählt. Aus diesem Grunde nehme ich das Recht für mich in Anspruch, an meiner Statt einen Champion zu ernennen. Meine Wahl fällt dabei auf den besten Schüler, den ich je auf meiner Planche unterrichtet habe, und den alten Spielkameraden meiner Tochter Sophie, Christien Lenoir.«
Christien hatte natürlich damit gerechnet, wusste mehr oder weniger, was auf ihn zukam, als Theodore durch die Eingangstür der Kapelle schritt. Die anderen Gäste waren darauf jedoch nicht gefasst. Wieder erhob sich ein großes Gemurmel und Getuschel. Man besprach eifrig, ob ein solcher Anspruch auf Vertretung im Einklang mit den traditionellen Duellregeln stand.
Neben sich spürte Christien, wie Reine sich zu ihm umdrehte. Er blickte sie an und sah direkt in ihre fragenden Augen. Es wurde ihm plötzlich bewusst, dass er nun die Macht besaß, sie vor dem Einfluss Theodores zu bewahren, ihre beiden Leben neu zu ordnen, so wie es auch für ihn selbst am Besten war. Er musste nur dieses kleinliche Bestrafungsritual, das Vinot für den Verführer seiner Tochter ausgedacht hatte, vergessen und diesen Menschen einfach töten, um alle zu befreien.
Theodore Pingre schnaubte vor Ärger, begleitet von einem verunglückten Lachen. »Warum nicht?«, fragte er verächtlich. »Ein alter Mann oder ein Krüppel, was macht das schon für einen Unterschied. Abgesehen davon habe ich mit Lenoir noch eine Rechnung zu begleichen, denn schließlich hat er sich an meiner Frau vergriffen.«
Christien richtete seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf Theodore. »Und woher wissen Sie, dass ich ein Krüppel bin?«
Er lachte roh und verächtlich. »Ich weiß mehr, als Sie denken. Hoffentlich haben Sie die aufopferungsvolle Pflege meiner Frau genossen, denn es wird das Letzte gewesen sein, was Ihnen an Freuden mit ihr widerfahren ist.«
»Sie wollen wieder den Platz an ihrer Seite einnehmen?«
»Wenn Sie erst einmal aus dem Weg geräumt sind und Vinot sich geschlagen geben muss, dann gibt es keinen Grund, warum ich das nicht tun sollte.« Theodore wandte sich mit seinem verzerrten Gesicht Reine zu. »Oder fällt dir ein Hinderungsgrund ein, geliebtes Weib?«
Christien brannte darauf, zu erleben, wie Reine ihren Ehemann beschimpfen würde, sie schwören würde, dass sie nie wieder zu ihm zurückkehren wollte, in sein verruchtes Heim, in sein Bett. Doch sie tat es nicht. Sie wandte sich von beiden Männern ab und ging zu Marguerite, die sich hinter den Frackschößen von Vinot versteckt hielt. Sie griff nach der Hand ihrer Tochter und zog sie zu sich her, ohne nach rechts oder links zu schauen, drehte sie sich um und schritt durch die offenen Türen der Kapelle in die Nacht hinaus, dem Donnergrollen entgegen.
Christien sah ihr hinterher und wartete darauf, dass sie ihm ein kleines Zeichen gab, ihm einen flüchtigen Blick zuwarf oder dass er anhand ihres Gesichtsausdruckes feststellen könnte, ob ihr irgendetwas an ihm lag, es ihr etwas bedeutete, ob er tot oder lebendig wäre. Aber da war nichts. Obwohl Marguerite sich den Hals verrenkte, um über die Schulter zurückzuschauen, und man Schrecken und Leid am Gesicht der Kleinen ablesen konnte, zeigte ihre Mutter nicht die geringste Regung und schritt geradewegs hinweg. Und warum auch nicht, denn schließlich
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