Im Zeichen der Angst Roman
Steinfeld«, sagte Mankiewisc. »Denken Sie nach. Hier geht es nicht um Ihre Gefühle, hier geht es um Tatsachen, und nur mit denen kommen wir weiter.«
Mankiewisc irrte. Nicht Gefühle übermannten mich oder stritten in mir um die Vorherrschaft. Ich bestand nur aus einem Gefühl: aus reiner Hysterie und nichts anderem. Mein Verstand hatte kapituliert. Er war so einsam, vereist und leer wie der Mount Everest.
Diese Männer saßen vor mir und behaupteten, meine Mutter hätte etwas mit dem Tod meiner Tochter zu tun.
Nein, nein, nein. Ich sprang auf und krallte mich an der Stuhllehne fest. Hysterie half mir nicht weiter. Nur ein klarer Verstand. Das kannte ich doch. Ich lauschte meinem Atem. Ich zählte bis zehn, bis zwanzig, zurück, dann bis dreißig. Mein Puls beruhigte sich, mein Verstand klarte auf wie die Luft nach einem heftigen Gewitterregen im Hochsommer.
Mankiewisc und Groß beobachteten mich schweigend.
»Geht es Ihnen besser?«, fragte Groß, als sich mein Atem wieder beruhigte.
Ich nickte und setzte mich.
»Das, was Sie vorbringen, läuft allem zuwider. Jeglicher Erfahrung, jeglichem Sinn für Menschlichkeit, jeglichem Sinn für Familie«, sagte ich.
»Das Letzte können wir abhaken«, sagte Mankiewisc ruhig, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme auf dem stattlichen Bauch, der drohte, die Knöpfe seines blauen Anzughemdes zu sprengen.
»Das können Sie doch nicht einfach so behaupten. Sie hat uns verlassen. Gut. Aber weshalb? Was sind die Gründe?« Ich fragte es mehr mich selbst als ihn.
»Überdruss, Langeweile, das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden.«
Ich schüttelte den Kopf. Das alles stimmte nicht. Sie hatte keine Langeweile. Sie war Lehrerin. Das war ein Fulltimejob, wenn man ihn ernst nahm. Meine Mutter hatte ihre Arbeit ernst genommen. Sie hatte ihre Schüler ernst genommen. Und sie wäre nur ein paar Wochen später Großmutter geworden - darauf hatte sie sich gefreut. Diese Gedanken schossen durch meinen Kopf. Sie konnten ebenso die Wahrheit sein wie Mankiewiscs Motive Überdruss und Langeweile. Oder die Sehnsucht, endlich, endlich, endlich, nach 40 Jahren, dem eisernen Vorhang zu entkommen, den die DDR zum Rest der Welt errichtet hatte. Sie wäre nicht die Einzige.
»Hören Sie, Frau Steinfeld. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten. Aber Ihre Mutter war offensichtlich sehr wohl fähig, Sie und Ihren Vater aus sehr eigennützigen Motiven zu verlassen. Doch im Moment ist diese Flucht aus der DDR für mich nur insofern relevant, als sie danach offensichtlich hier festgestellt hat, dass man für das große Abenteuer Freiheit Geld braucht. Auch wenn sie dazu sieben Jahre gebraucht hat.« Mankiewisc sprach aus, was ich nur Minuten zuvor zum ersten Mal selbst gewagt hatte zu denken.
Ich schwieg. Ich wusste einfach nicht mehr, wer meine Mutter war. Doch ich hatte genügend Lebenserfahrung, um zu wissen,
dass nichts unmöglich war. Es waren zumeist die engsten Angehörigen von Mördern oder Gewaltverbrechern, die keine Ahnung hatten, mit welchen Monstern sie Jahre oder gar Jahrzehnte unter einem Dach gelebt hatten. Die perfidesten Sexualstraftäter waren oftmals hilfsbereite Nachbarn, aufmerksame Ehemänner, nette Väter.
Aber das Ganze war absurd. Wir waren eine intakte Familie gewesen, eine normale Familie mit normalen Menschen. Nun gut, wir hatten Macken und Schwächen wie andere auch. Doch in meiner Familie hatte es niemals ein Gewaltverbrechen gegeben. In keiner Generation.
»Ich habe privat mit Max Renner gesprochen, und wir haben uns auch Ihre Akten kommen lassen«, sagte Groß in das Schweigen, das die Küche gefüllt hatte. Es traf mich wie ein Schlag auf den Solarplexus.
Da war sie. Meine Vergangenheit. Ich wusste von vier Ordnern. Rund 1200 Seiten Ermittlungsberichte, Zeugenvernehmungen, Prozessprotokolle, Gutachten, Gegengutachten, Tatortberichte, Obduktionsberichte, eidesstattliche Erklärungen und mein Urteil mit der Urteilsbegründung.
Als Groß weitersprach, klang seine Stimme wie aus weiter Ferne.
»Renner hatte zunächst vermutet, dass es mehrere Täter gegeben hat. Er konnte es nur nicht beweisen. Alle, die mit Jörn Bruchsahl befreundet waren oder mit denen er gearbeitet hatte, alle, die er nur flüchtig kannte, hatten sie unter die Lupe genommen. Doch alle hatten für den Tag der Entführung Ihrer Tochter ein Alibi. Und der Einzige, der keins hatte, war Jörn Bruchsahl.«
»Er ist es nicht gewesen«, sagte ich und sah Mankiewisc
Weitere Kostenlose Bücher