Im Zeichen der Angst Roman
Vorderrad halb auf dem Gehweg stand und ich bei meiner Rückkehr hinter der Windschutzscheibe wieder mal ein Strafmandat finden würde. Einen anderen Parkplatz gab es jedoch weit und breit nicht, und so fand ich mich damit ab, auch wenn es mich ärgerte.
Ich stieg aus dem Auto und dachte an Strafmandate und an all die Male, an denen mein Auto abgeschleppt worden war, während Kai und ich uns mittags in der Innenstadt getroffen hatten. In den Jahren vor Johannas Entführung war es uns beiden wichtig gewesen, uns mindestens zweimal die Woche mittags für eine Stunde zum Essen zu treffen. Nur in dieser knapp bemessenen Zeit konnten wir wieder das unbeschwerte Paar sein, das wir in den ersten kinderlosen Jahren gewesen waren. Abends und am Wochenende waren wir zuallererst Eltern, die ihr Familienleben ebenso sorgfältig planten wie andere ihre Urlaubsreise. Wir engagierten uns in unseren Berufen, doch mindestens ebenso engagiert und aufmerksam kümmerten wir uns
um unser Leben mit Johanna und um unsere Liebe. In jenen glücklichen ersten Jahren glaubten wir daran, das Patentrezept für eine glückliche Ehe mit zwei gleichberechtigten Partnern und einer wundervollen Tochter gefunden zu haben.
Doch dann starb Johanna, knapp drei Jahre später starb Kai, und jetzt war ich auf dem Weg zu jenem Mann, der wie vielleicht kein Zweiter mitschuldig am Zerbrechen meines Glücks war.
Ich spürte ein Zittern in der Brust, als ich vor der Haustür mit der Nummer 44 stand.
Ich drückte auf den Klingelknopf neben dem Namen Renner. Ich sah nach links und rechts, während ich darauf wartete, dass der Türsummer ertönte.
Auf der anderen Straßenseite fuhr langsam ein schwarzer Range Rover an mir vorbei. Ich konnte nicht erkennen, ob eine Frau oder ein Mann am Steuer saß, doch mein Herzschlag beschleunigte sich.
»Zweite Etage, links«, tönte es aus der Gegensprechanlage. Dann summte es, und ich drückte mit dem Ellenbogen die Tür auf, während ich noch immer dem Rover nachsah.
Max Renner stand im Türrahmen und erwartete mich. Unsere Blicke trafen sich, als ich aus dem Fahrstuhl stieg und mich nach links wandte.
Er sagte »Hallo«, und ich blieb einen guten Meter vor ihm stehen.
Er war nur unwesentlich größer als ich, schlank und drahtig. Er trug eine ausgebleichte Jeans und einen Pullover aus grauer Schurwolle. Es war ein alter Pullover mit Flicken an den Ellenbogen und einem Riss am linken Handgelenk genau über einem schweren Chronographen aus Edelstahl.
Sein Haar war noch immer voll, wenn auch grau, und in sein schmales Gesicht hatte das Leben ein paar Furchen gegraben.
Er trat ein wenig zur Seite und räusperte sich. »Kaffee oder Tee?«, fragte er, als ich an ihm vorbei in die Wohnung ging.
»Tee wäre gut«, antwortete ich, als wäre ich ein harmloser Gast, der auf einen kurzen Vormittagsplausch vorbeikam. Allein meine Stimme vibrierte kaum merklich, und ich gab ihm nicht die Hand.
Ich blieb im Korridor stehen. Es war eine dieser typischen hanseatischen Altbauwohnungen mit hohen Wänden, viel Stuck und einem langen, schmalen Korridor ohne Fenster, von dem die einzelnen Zimmer abgingen.
Er ging an mir vorbei und öffnete die Tür in eine geräumige Wohnküche mit weißen Einbauschränken, weißen Wandfliesen und einem blauen Linoleumfußboden.
Ich setzte mich an einen Kieferntisch, der unter dem einzigen Fenster stand und von dem aus man in einen Hinterhof hinaussah. Vor dem Tisch stand ein Rollwagen mit ein paar Aktenordnern. Ich wusste, was sie enthielten.
Er stellte zwei schlichte weiße Tassen auf den Tisch, legte zwei Teelöffel dazu, brühte den Tee in einer weißen Kanne auf und setzte sich mir gegenüber in einen naturfarbenen Peddigrohrsessel.
»Zucker?«, fragte er und wies auf eine Dose auf dem Tisch. Ich schüttelte den Kopf.
Ich schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk, als er mir den Tee einschenkte. Eine Tag Heuer Link Chronicle. Ich kannte die Uhr. Er hatte sie schon bei unserer ersten Begegnung getragen. Als er mich noch als Opfer betrachtete, hatte er mir erzählt, dass er sie von seiner geschiedenen Frau zum zehnten Hochzeitstag erhalten hatte. Damals, in den ersten Tagen der Entführung, war er teilnahmsvoll und offen gewesen. Doch nach Bruchsahls Tod hatte ich ihn in all seinem Zynismus kennen gelernt als einen Bürokraten, der unbedingt einen Fall abschließen und einen Täter vorweisen musste.
»Ich frage mich die ganze Zeit, wie ich es Ihnen beibringen soll«, begann er, als er die
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