Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
von der Rabenprophezeiung bis nach Leukos vorgedrungen war und ob sie wussten, was Nilik vielleicht sein würde. „Seine Mutter ist Hase.“
„Nein, ist sie nicht.“
Mareks Herz machte einen Sprung. Basha hatte ihn bei einer Lüge ertappt.
„Seine Mutter ist kein Hase.“ Sie lächelte Nilik liebevoll an und rieb dann ihre Nase an seiner Stirn. „Seine Mutter ist Senatorin.“
29. KAPITEL
F ilip kniete auf kalter sandiger Erde und starrte hinauf zu einem schimmernden Vogel, der zweimal so groß war wie er. Etwas sagte ihm, dass er diese Kreatur nicht ansehen durfte, dass er sich vor ihr auf den Boden werfen sollte wie vor der Manifestation des Himmelgottes Atreus. Aber er konnte nicht wegsehen.
„Ich dachte, ich wäre Pferd“, flüsterte er. „Welcher Geist bist du?“
„Du bist Pferd“, antwortete der Vogel leise. „Und ich bin Rabe, die Mutter der Schöpfung, der Geist aller Geister. Auch wenn ich niemandem gehöre, begrüße ich doch jedes Mitglied meines Volkes bei seiner Weihung.“
Filip sah hinab in das schilfige Gras zu seinen Knien. „Dann bin ich jetzt einer von ihnen.“ Er spürte einen dumpfen Schmerz in der Brust.
„Du bist einzigartig“, sagte Rabe. „Du hast einen Fuß in jeder Welt, in der deiner Geburt und in der deiner Zukunft.“
Er runzelte die Stirn über die Wahl ihrer Worte. „Ich habe nur einen Fuß“, sagte er bitter.
„Genau.“ Sie flatterte mit den Schwingen und ließ dabei bunte Funken in der kühlen Morgenluft aufsteigen. „Hör auf deinen Geist, und du wirst gesegnet sein.“
Dann nahm sie die Farbe an, die ein Rabe haben sollte. Ihre Schwingen und ihre Krallen wurden gerader, krümmten sich, und ihre Federn verwandelten sich zu glattem Fell. Ohren und eine Mähne sprossen aus diesem neuen Körper, und Filip sah zu, wie sie sich in die schwärzeste, schönste Stute verwandelte, die er je gesehen hatte. Ihr Fell, der Schweif und die Mähne blendeten auch ohne Sonnenlicht, und aus ihren dunklen Augen leuchtete ein inneres Licht auf ihn.
„Guten Morgen“, sagte sie endlich.
„Ich … ich …“ Sein Kopf war leer. „Ich dachte, du wärst weiß.“
„Bin ich.“ Sie verblasste von Tintenschwarz über Schiefergrauzu reinem, blendendem Alabaster, so wie das Pferd in dem Traum von seiner Heimatstadt. „Besser?“
Schützend legte er sich eine Hand über die Augen. „Was dir lieber ist.“
Sie errötete zu einem tiefen Kastanienbraun mit einem weißen Stern in der Mitte ihrer Stirn. Der Farbwechsel überraschte ihn nicht, zu viel hatte er in den letzten Tagen gesehen.
Am ersten Tag seiner Weihung hatte Filip auf den grasbewachsenen Dünen gesessen und die Wellen gezählt, die an den Strand gerollt waren. Gegen Mittag begann ihm der Magen zu knurren, was aber bei Sonnenuntergang wieder aufhörte. Der Himmel war von schweren Wolken verhangen gewesen. Das Fasten störte ihn nicht, in der Armee hatte er gelernt, seine körperlichen Bedürfnisse, die dort selten gestillt wurden, zu verdrängen.
Bei Einbruch der ersten mond- und sternenlosen Nacht war etwas Undefinierbares näher gekrochen. Es beobachtete ihn in der Dunkelheit, und auch wenn es kein Tier war – er konnte seine Gedanken nicht hören –, hatte es doch die Aura eines Jägers. Filip spürte, dass er keine Angst zeigen durfte, also zählte er weiter die Wellen, dieses Mal nur dem Geräusch nach. Um zu vermeiden, dass sein Atem in panisches Keuchen umschlug, passte er ihn dem Takt des Meeres an.
Erst beim scharlachroten Sonnenaufgang zog das Ding sich zurück, und Filip begann zu zittern, wusste er doch, dass es wiederkommen würde.
Der zweite Tag brachte Hitze und Delirium. Aus dem Meer, aus den Wäldern, aus dem Sand kamen Tiere, die wie Menschen sprachen. Sie waren auf eine Art menschlich, die den Göttern nie zu eigen gewesen war. Er wollte die Statuen jeder Gottheit im Pantheon von Ilios zerschmettern, um ihre Falschheit zu beweisen. Im nächsten Augenblick wünschte er sich, sie wären bei ihm, um sie anzurufen, damit sie ihm dabei helfen würden, zu verstehen, was vor sich ging.
Aber als die Nacht hereinbrach, raubte das Ding aus den Wäldern ihm diesen Drang. Es raubte alles. Der lebendige Schlunddrang in seine Seele ein, breitete sich aus und zerquetschte alles, was er zu sein geglaubt hatte. Stundenlang balancierte er auf der messerscharfen Schneide zwischen Leben und Tod.
Verglichen mit alldem und dem Erscheinen von Rabe schien der Geist Pferd vertraut und tröstlich. Doch ein
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