Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
Nacht“, fuhr er fort, „wenigstens fünf oder sechs, vor meinem Fenster. Zwitschern und rufen einander, auch wenn es so klang, als würden sie auf dem gleichen Zweig sitzen.“
Zelia nahm das Tuch und bedeutete ihm, sich auf die Seite zu drehen. „Da waren nicht fünf oder sechs Vögel. Es war ein Vogel mit fünf oder sechs Stimmen. Eine Spottdrossel.“
„Oh.“ Jetzt war er der Dumme. „Die haben wir in der Stadt nicht.“ Er drehte sich so, dass sie seinen Rücken waschen konnte.
Ein Schmerz durchfuhr seine linke Fußsohle, als wäre er in einen Dorn getreten. Er stöhnte und krallte die Finger in die Decke. Dabei stellte er sich vor, wie sie sich stattdessen um den Hals des Mannes schlossen, dessen Schwert sein Leben zerstört hatte.
Die Heilerin berührte sein Knie, schloss die Augen und sang leise vor sich hin. Filip wollte sie schlagen, als könne er seinen Schmerz lindern, indem er ihn an einen anderen weiterreichte.
Durch ihre Berührung verringerten sich seine Schmerzen binnen weniger Augenblicke. Sie hatte Magie, das musste er zugeben, nur reichte sie nicht aus.
„Danke“, sagte er zu Zelia und atmete tief aus, „das ist besser.“ Filip hoffte, die anderen hätten nicht gehört, wie er aufschrie. Er nahm sich ein sauberes Hemd von seinem Nachtschrankund zog es sich über den Kopf. „Wie kann es so sehr wehtun, wenn da nichts mehr ist?“
„Das ist alles hier oben.“ Sie berührte ihre Schläfe. „Eines Tages wird dein Verstand akzeptieren, was verloren ist.“
„Ich kann ihn fühlen.“ Er schloss die Augen. „Ich kann mit den Zehen wackeln.“
„Nein, mein Junge, ich fürchte, das kannst du nicht.“ Die Stimme der Heilerin war weich, aber kräftig, als sie seinen Arm berührte. „Komm jetzt nach draußen.“
Er machte sich von ihr los. „Ich will nicht.“
„Du wirst aber, sonst gibt es nichts zu essen. Frühstück gibt es heute auf dem Hof und nirgends sonst.“ Sie trat geschäftig an die Tür. „Ich hole meinen Lehrling, um dich zu tragen.“
„Nein!“ Er warf die Decke zurück, auch wenn er wusste, dass er damit nur auf ihre Spielchen einging. „Ich krieche, ehe ich die anderen sehen lasse, dass man mich wie einen Säugling trägt.“
„Du musst nicht kriechen, wenn du die hier benutzen kannst.“ Sie fasste um die Tür herum in ihr Untersuchungszimmer und holte ein Paar hölzerner Krücken hervor. Die Griffe waren mit braunem Fell gepolstert. Zelia stellte je eine an seine Seiten.
Mühsamer, als er vermutet hatte, gelang es ihm, zum ersten Mal seit der Schlacht zu stehen. Auch wenn die Krücken ihm stabile Unterstützung gaben, merkte er immer wieder, wie er seinen Fuß absetzen wollte. Er versuchte, nicht daran zu denken, wo dieser Fuß gerade sein mochte. Vielleicht teilte er sich ein Massengrab mit seinem Bruder und hundert weiteren toten Nachfahren. Wie er die Asermonier kannte, hatten sie ihn wahrscheinlich an die Hunde verfüttert oder wenigstens ein Festmahl für die schrecklichen Krähen bereitet, die sie so verehrten.
Filip humpelte langsam vorwärts, und seine Schulterwunde schmerzte erneut.
Er durchquerte das Untersuchungszimmer, dann das Wartezimmer im vorderen Teil des Gebäudes. Gedämpftes Sonnenlichtfiel auf den Boden. Sofort beschleunigte er seine Schritte, sehnsüchtig, dieses Sonnenlicht auf seiner Haut zu spüren. Er stolperte über die Schwelle der Eingangstür, hob dann seinen Blick und betrachtete seine Umgebung.
Asermos. Das Dorf, das er für sein Land hatte erobern sollen. Für seine Götter.
So ein kleiner, harmlos aussehender Ort. Von der Tür des Krankenhauses aus konnte er das Südende des Dorfes sehen, das sich an das Ufer des Velekos schmiegte. Bescheidene Gebäude aus Stein und Putz säumten die Hauptstraße. Von ihr zweigten schmalere Straßen ab, die drei oder vier Häuserblöcke weit das Flussufer hinaufführten. Das ganze Dorf konnte nicht mehr als einige Tausend Einwohner haben, inklusive derer, die auf den Farmen außerhalb lebten.
Es hätte so einfach sein sollen, es dem Erdboden gleichzumachen.
Von Zelias Arm gestützt, humpelte er von der Veranda, immer darauf bedacht, nicht auf dem taunassen Gras auszurutschen. Sie führte ihn rechts um das Gebäude herum.
Ein hölzerner Zaun, der Filip etwa bis zur Brust reichte, stand neben dem Haus. Auf seiner anderen Seite befand sich ein Garten, der voller Kräuter und Blumen war. Ein Pfad aus Steinplatten führte durch den Garten und in einem Bogen zum hinteren Teil des
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