Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
aus.“
Von Schmerz und Druck geblendet, konnte Rhia ihr nicht einmal zunicken. Sie wollte nach ihrer Mutter rufen, aber sie konnte nur die Augen schließen und sich auf die Erinnerung an ihr starkes sanftes Gesicht konzentrieren.
Als die Welle des Schmerzes sie überrollt hatte, öffnete Rhia die Augen. Die Vorhänge waren geschlossen, und das einzige Licht im Raum kam von drei Kerzen, die um eine tiefe Schale Wasser herum auf einem Tisch in der Nähe ihres Bettes standen. Silina befand sich neben dem Tisch und starrte in die Luft über der Schüssel. Das Kerzenlicht schuf drei tanzende gelbe Punkte in ihren haselnussbraunen Augen.
Tief in der Kehle der Schildkröte erhob sich ein Gesang. Sie hielt die Handflächen über die Schüssel. Die anderen sahen ihr bloß zu. In ihren Gesichtern stand dieselbe leere Ruhe, die Rhia durch den Klang von Silinas Stimme zu spüren begann.
Das Wasser in der Schüssel bewegte sich – erst war es nur ein kleines Kräuseln, dann eine Reihe Wellen. Silinas Stimme wurde lauter. Das Wasser schlug schneller gegen die Seiten der Schüssel. Das Blut und das Wasser in Rhias Körper hoben sich ihm entgegen.
In der Mitte der Schüssel formte sich ein kleiner Strudel, der anwuchs, bis er jeden einzelnen Tropfen umfasste. Die rauschende Flüssigkeit passte sich an Silinas Stimme an. Sie drehte sich zu Rhia um, die vor ihrer immensen Macht zurückweichen wollte. Marek streichelte ihr beruhigend den Arm.
Silina breitete die Hände aus, während sie auf Rhia zutrat. In der Luft zwischen ihren Handflächen schimmerte flüssige Kraft, als hätte sich die Luft selbst in Wasser verwandelt.
Sanft legte sie die Handflächen auf die Unterseite von Rhias Bauch, dorthin, wo Nilik feststeckte. Silina neigte das Kinn, und ihre junge Gehilfin schloss sich mit hoher trällernder Stimme ihrem Gesang an. Rhia sank in Mareks Arme zurück.Sie schwebte auf den Wogen des Klanges, der wie Wasser über sie hinweg- und in sie hineinfloss. Wohlige Schauer liefen ihr den Rücken hinab bis in ihre Fingerspitzen und Zehen.
Nilik begann sich zu regen.
Die zwei Frauen sangen weiter, und Rhia spürte die Bewegungen in ihrem Schoß. Sie keuchte auf, als eine Welle nach oben rollte, in die entgegengesetzte Richtung des Geburtskanals. Es fühlte sich falsch an, aber sie musste Silinas Schildkrötengeist vertrauen.
Etwas in ihr verrutschte und sank dann an einen Ort, der sich richtig anfühlte – und lebenswichtig.
„So!“ Nach dem überirdischen Gesang erschreckte Rhia sich über Silinas normale Sprechstimme. Die Schildkröte strich Rhia über den Bauch. „Er ist so weit, wenn du so weit bist.“
„Danke“, hauchte Rhia.
Silina tätschelte ihr das Bein. „Tut mir leid, der schwerste Teil kommt erst noch. Aber jetzt kannst du deinen Körper tun lassen, was er will.“
Am dringendsten wollte ihr Körper die Person ausstoßen, die er siebenunddreißig Wochen lang getragen hatte.
Auf einmal wurde der Raum bis auf Marek und Silina leer. Rhia war es egal, es hätten auch hundert Menschen um sie herumstehen können, sie hätte es nicht gemerkt. Ihr Verstand verschloss sich gegen alles bis auf einen kleinen Platz in ihrem Inneren. Sie erinnerte sich an den Tag auf dem Berg, an dem sie erfroren war. Damals war der langsame Rhythmus ihres Atems zu ihrer ganzen Welt geworden. Der gleiche Frieden hüllte sie jetzt ein, selbst inmitten des Schmerzes, der ihren Körper dazu brachte, sich aufzubäumen und sich zu krümmen. Doch statt einer betäubenden Trägheit, die sich zwischen sie und alle Empfindungen legte, verankerte Niliks Geburt sie tief in ihrem eigenen Körper, bis sonst nichts mehr um sie herum existierte.
Es war das Gegenteil vom Sterben.
Wie aus weiter Ferne hörte sie Silina sagen: „Da, ich sehe schon sein Köpfchen.“
Rhia reckte den Hals, um etwas sehen zu können, aber eine weitere Wehe ließ sie gegen Mareks Brust sinken.
„Nicht mehr lange“, ermutigte Silina sie. „Gut, seine Arme sind unten. Dadurch werden die Schultern leichter. So ist es gut, kleiner Mann. Jetzt nur noch dein schönes Gesicht.“
Rhia versuchte sich nicht zu sehr zu verkrampfen. Der schwerste Teil kam erst noch, und wenn es nicht schnell ging …
Marek strich ihr die Haare aus der Stirn. „Bist du bereit, Coranna und Damen rufen zu lassen?“
Sie nickte. Krähen waren bei jedem Übergang von einer Welt in die andere dabei, egal in welche Richtung. Einer Geburt beizuwohnen war eine ihrer angenehmeren Pflichten.
Sie
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