Im Zeichen der Menschlichkeit
wofür er vom Richter zu dreißig Stunden Sozialdienst in einem Pflegeheim verdonnert wurde. »Das war eine Mischung aus Bunker und Gefängnis, bewohnt von lebenden Toten. Das hat mich dermaßen aufgeregt, dass ich mir vorgenommen habe, es anders zu machen.« Heute sieht er sich als »hofierter Rebell«. Das Haus hat sich zu einem Vorzeigeprojekt entwickelt, belegt es doch, dass kulturelle Vielfalt auch im letzten Lebensabschnitt als Bereicherung erlebt werden kann. Dass es über türkische Zeitungen, Bücher und Fernsehkanäle verfügt, versteht sich von selbst. Der muslimische Gebetsraum ist nach Mekka hin ausgerichtet, er liegt gleich neben dem christlichen Andachtsraum. Bei Festen sitzen Bewohner und Besucher manchmal auf orientalische Art auf Kissen im Partyzimmer und schmauchen Wasserpfeife. Jeden Mittwoch bietet das Heim ein dreistündiges Betreuungsprogramm für Demenzkranke und deren Angehörige. Es trägt den schönen Namen »Café Augenblick«.
In dem Maße, in dem staatliche Versorgungsleistungen zurückgegangen sind, haben ehrenamtliche Ergänzungsangebote an Bedeutung gewonnen. Ob sie im Jugendklub mitarbeiten, Migranten betreuen, ältere Menschen besuchen oder in der Notfallnachsorge »Erste Hilfe für die Seele« geben – das Rote Kreuz bietet ehrenamtlichen Helfern ein breites Betätigungsfeld. Darüber hinaus wirkt es seit vielen Jahren als Träger für Programme im Freiwilligen Sozialen Jahr sowie für den neu geschaffenen Bundesfreiwilligendienst.
Mit 167 Wohnheimen und 25 Werkstätten bildet auch die Behindertenarbeit ein wichtiges Tätigkeitsfeld. Zu den größten Einrichtungen zählt das Sozialwerk Bernkastel-Wittlich an der Mosel, das 560 behinderte Menschen betreut. Die Arbeitsangebote reichen von der Schlosserei bis zur Pferdehaltung. Sogar zwei Weingüter gehören dazu, die auch einen »Cuvée Henry Dunant« anbieten und einen »Rosé 1859« (»ein besonderes Jahr«). Das ausgesprochen vielfältige Profil ist all diesen Einrichtungen gemeinsam. Die Werkstätten bieten eine breite Palette verschiedenster Handreichungen und Dienstleistungen, die dem Leistungsvermögen der Behinderten angepasst sind und zugleich ein Mindestmaß an Rentabilität versprechen. In Potsdam etwa zerlegen die Mitarbeiter Elektroschrott, tüten Schrauben für Möbelhäuser ein, erledigen Massenpostversand, drucken Prospekte. Andere Gruppen stecken Lamellen in die Lüftungsdüsen für Autos oder bestücken Übungspäckchen für die Erste-Hilfe-Ausbildung mit Binden und Kompressen. Alles Dinge, bei denen man nie darüber nachdenkt, durch wessen Hände sie gegangen sind.
Immer wieder müssen die Werkstattleiter skeptische Kunden erst überzeugen: Ja, die Menschen sind behindert – ihre Arbeit aber ist es nicht. Wie in jedem anderen Unternehmen zählen hier Qualität, Termintreue und Verantwortungsbewusstsein. Nicht jeder eignet sich für alles: Ein Rollstuhlfahrer kann keine Lasten heben, ein Analphabet keine Bücher sortieren. Doch was Gewissenhaftigkeit, Fleiß und manuelle Fähigkeiten angeht, so die Betreuer, seien Behinderte mindestens so tüchtig wie Nichtbehinderte.
Steffi Taubert und Luise Zahlmann arbeiten in der beliebtesten Abteilung: der Küche. Zwar werden die Hauptmahlzeiten für die 185 behinderten und die 45 nichtbehinderten Mitarbeiter geliefert, doch für das Hauswirtschaftsteam bleibt immer noch genug zu tun. Sie bereiten das Frühstück zu, backen Kuchen für das schicke »i-Café« (»ein Café der besonderen Art«), das sie in einer nahen Plattenbausiedlung betreiben, und sie übernehmen das Catering für Veranstaltungen: »Kartoffelsalat, Nudelsalat, Kanapees, Obstplatten, Käseplatten, Keksplatten …«, führt Zahlmann auf. Wie allen hier ist es ihr wichtig, nicht nur beschäftigt zu sein, sondern gebraucht zu werden. Arbeit bedeutet Anerkennung und strukturiert den Tag. »Wenn grad mal keine Aufträge da sind, ist die Laune auch gleich hin. Dann schimpfen die Mitarbeiter auf die Küche: der Tee ist kalt, der Pudding ist alle.«
Meist aber ist die Stimmung ausgesprochen gut. Die Arbeit holt die Behinderten aus der häuslichen Isolation und Passivität heraus. »Ich war einfach zu jung, um zu Hause zu sitzen«, bekräftigt auch Steffi Taubert, die meist mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. Ein gutes Drittel der Belegschaft lebt dagegen im angeschlossenen Wohnheim, einzeln oder paarweise. Die Anlage liegt idyllisch in einem Waldstück, auf einem früheren Gelände der Ufa, auf dem das leicht
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