Im Zeichen der Sechs
aufzuhalten.
Seine hastige Flucht indessen führte Doyle in einen drangvoll engen Pferch unter einer Treppe, wo er sich inmitten einer Reihe verschwitzter Gesichter eingekeilt sah, die von Sonnenbräune und ganz unnatürlicher Gesundheit leuchteten. Wo war Pepperman? Der Major hatte mit Doyle auf seiner Runde Schritt gehalten, hatte den Namen eines jeden Angreifers, der Kurs auf ihn nahm, wiederholt – wieso konnten sie anstelle dieser albernen Rosetten nicht kleine Namensschilder am Revers tragen? –, aber der rauschende Ansturm irgendeines wahnsinnigen italienischen Tenors hatte ihn beiseite gefegt. Doyle konnte den Zottelkopf des Majors ganz in der Nähe, aber unerreichbar, aus dem Gedränge ragen sehen, und er begriff, daß er das kampflustige, pferdezahnige Raubtier an der Spitze dieser Meute ganz allein würde abwehren müssen. Wie hieß der Mann gleich wieder?
Roosevelt? Das war’s. »Theodore. Nennen Sie mich Teddy« Eine Familie aus der herrschenden Klasse – angeblich gab es in diesem Land der Freien keine, aber selbst ein Idiot brauchte sich nur hier im Saal umzusehen, um es besser zu wissen. Ungefähr in Doyles Alter. Plump und stämmig wie die dicke Zigarre in seinem Mund, mit genügend bedenkenloser Willenskraft im Blick, um damit ein Rhinozeros in die Knie zu zwingen. Fanatische Augen, von dicken Brillengläsern vergrößert, quollen aus einem absolut quadratischen Schädel.
Roosevelt war ihm als Commissioner für dieses oder jenes vorgestellt worden – für Grünflächen oder Handelsbeziehungen oder das Innere des Äußeren. Amerikaner betrachteten es als nationalen Zeitvertreib, sich gegenseitig Titel zu verleihen, aneinandergehängt wie Eisenbahnwaggons, strotzend von Redundanz und bar aller Fantasie. Vize-Superintendent des Stellvertretenden Beauftragten für Gesundheits- und Sicherheitsordnung. Leiter der Hauptverwaltung des Amtes für den Öffentlichen Personenverkehr, Abteilung Pferdefuhrwerke, Ressort Zaumzeug und Steigbügel. Nichts von der poetischen Lyrik, die den englischen Amtsbezeichnungen innewohnte: Schatzkanzler. Innenminister. Vizekönig des Subkontinents. Zeremonienmeister des Hosenbandordens.
»War auf Vortragsreise«, sagte Roosevelt und kaute manisch auf seiner Zigarre. »Boston, Philadelphia, Atlantikküste. Kann mich nicht mehr zu weit von zu Hause entfernen; mein jüngerer Bruder ist vor zwei Monaten gestorben. Alkohol. Zügellose Lebensweise. Epilepsie. Halluzinationen. Einweisung ins Sanatorium. Hat versucht, sich aus dem Fenster zu stürzen. Familie in Aufruhr. Gräßlich. Können Sie sich nicht vorstellen, Arthur.«
Wieso erzählt er mir das? überlegte Doyle. Und wieso nennt er mich Arthur?
»Tut mir furchtbar leid«, sagte Doyle. Was hätte er sonst sagen sollen?
»Danke. Was kann man machen, wenn jemand, den man so wild entschlossen liebt, mit dem Leben nichts zu tun haben will? Nichts. Nicht das geringste. Man muß ihn laufenlassen.« Ohne ein weiteres Anzeichen der Gefühlsaufwallung und auch ohne Scham wischte Roosevelt sich eine Träne fort, die hinter seiner Brille hervorrollte. »Das Leben geht weiter. Es ist für die Lebenden. Man muß damit ringen, muß sich ihm stellen. Niemals nachgeben, bis zum letzten Atemzug nicht. Die Zeit wird uns alle noch früh genug unter die Erde bringen.«
Die muskulöse Tapferkeit dieses Mannes weckte Sympathie. War es nicht das, was er an den Amerikanern am meisten bewunderte? Aufrichtigkeit, Offenheit. Starke Emotionen freimütig zum Ausdruck bringen. Nichts von der steifen Förmlichkeit und dem ritualisierten Geplauder, hinter dem seine verklemmten Landsleute sich versteckten wie die Feldmäuse in einer Hecke in Sussex.
Roosevelt nahm die Zigarre aus dem Mund und beugte sich ein wenig vor.
»Meine Ansicht zu solchen Exzessen, wie sie meinen Bruder umgebracht haben, ist folgende: Schauen Sie sich hier im Raum um, und alles was Sie sehen, ist Reichtum, Raffinement, Kultur. Aber ich sage Ihnen, anderswo in den Straßen dieser Stadt herrscht offener Krieg. In der Lower Eastside beherrschen Banden von Schlägern und Randalierern unbehelligt ganze Viertel. Die Stadt steht ihnen hilflos gegenüber. Und hier werden auf geradezu schonungslose Weise die beiden möglichen Richtungen erkennbar, in die sich die Menschheit weiterentwickeln kann. Zum einen durch Selbstvervollkommnung und die Philanthropie der moralisch Starken, die danach streben, ihr Wissen zu mehren und ihren Horizont zu erweitern; sie bringen die Gesellschaft
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