Im Zeichen der Sechs
gehüllt. Ein Primitiver vermag keinen Sinn darin zu erkennen!«
»Eine säuberliche Zusammenfassung dessen, was ich beim Lateinunterricht empfand«, sagte Eileen.
»Natürlich! Weil man Sie nicht davon überzeugen konnte, daß es für Ihre fünfzehnjährige Existenz relevant ist! Aber für einen Gelehrten, der sein Leben darauf verwandt hat, sich vorzubereiten, oder – besser noch – für einen Propheten, dessen Geist nicht von den Einflüssen der physikalischen oder der animalischen Seele umwölkt ist –«
An dieser Stelle versank Bendigo Rymer, der auf dem Sitz vor ihnen angestrengt die Ohren gespitzt hatte, um zu lauschen – voller Empörung darüber, daß Eileen ihn um dieses Eindringlings willen so schmählich im Stich gelassen hatte –, in einen tiefen, sorgenfreien Schlummer.
»– ist ein großes heiliges Buch nicht bloß ein Dokument zum Studium Gottes oder auch nur ein Werkzeug zur Übermittlung des göttlichen Willens. Es ist an sich der heilige Leib Gottes, verkörpert in einer Gestalt, die es dem Menschen, der es studiert, gestattet, in das Buch einzudringen und mit ihm zu verschmelzen und auf diesem Wege in das geheime Herz unseres Schöpfers zu gelangen.«
»Damit sagen Sie, daß diese Bücher irgendwie lebendig sind«, meinte Eileen.
»In gewisser Weise, ja. Das ist verzwickt. Ist Ihnen bekannt, wie ein Telefon funktioniert, meine Liebe?« »Nicht genau.«
»Mir auch nicht. Aber wenn ich recht verstehe, existiert eine geheimnisvolle Substanz in dem kleinen Teil, das wir in der Hand halten, um hineinzusprechen –« »In der Sprechmuschel.«
»– danke sehr. Eine Substanz, die, wenn wir in die Sprechmuschel sprechen, zu vibrieren beginnt und unsere Worte in ein elektrisches Signal verwandelt, welches durch die Drähte zu der anderen Person läuft – fragen Sie mich nicht, wie –, wo noch mehr von dieser magischen Substanz in dem Teil sitzt, durch welches man hört – die Hörmuschel, ja? –, die dann ebenfalls vibriert und dabei die Signale wieder in die Worte zurückverwandelt, die wir hier drüben gesprochen haben, so daß Sie sie dort verstehen können. Ist das nicht fantastisch?«
Einen Schritt vor ihnen begann Bendigo Rymer zu schnarchen, ein Nebelhorn, das durch das Rattern des Zuges tönte.
»Und heilige Bücher sind wie diese Substanz.« »Ja. Das Wort Gottes wurde auf ihren Seiten empfangen und in Wörter und Zahlen und Laute übersetzt, so daß jemand, der sich mit der richtigen Ausbildung heranbegibt, es am Ende entziffern und verstehen kann. Gott spricht am einen Ende hinein, und wir hören am anderen Ende zu.«
»Wenn das so ist«, sagte Eileen und biß noch einmal in ihren Apfel, »wieso ist dann nicht jeder in das Geheimnis eingeweiht?«
»Nicht jeder ist bereit. Ein Mensch muß einen hohen Grad von Reinheit erreichen, bevor er dieses Material studiert, denn sonst würde die Kraft dieser Informationen ihn zerreißen wie ein Hurrikan. Es gibt eine Redensart: Das Gefäß muß stark gemacht werden, bevor die Weisheit hineingegossen wird.«
Mit einem dumpfen Schlag fiel die silberne Taschenflasche, aus der Rymer getrunken hatte, vom Sitz des Schlafenden auf den Boden und Stern vor die Füße. Eileen schob Bendigo die Flasche wieder unter den Arm und war dankbar dafür, daß sie heute abend nicht getrunken hatte; sie hatte sich dem Alkohol in letzter Zeit allzu häufig hingegeben – Seelentrost anstelle von Gesellschaft –, und es wurde Zeit, daß sie es ein wenig zurückschraubte. Sie ließ den Kopf gegen die Rückenlehne sinken und konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so entspannt gewesen war, eingelullt vom sanften Wiegen des Zuges und dem gleichmäßigen Klang von Jacobs Stimme.
»Dies ist die traditionelle Rolle der Priesterschaft, in jeder Religion: Sie hilft Männern und Frauen dabei, sich darauf vorzubereiten, spirituelle Informationen aus höheren Regionen aufzunehmen.«
»Mein Priester hat nie was anderes getan, als zu versuchen, mir die Hand unter den Rock zu schieben«, sagte Eileen und bereute es sofort.
»Na, das ist die große Herausforderung des Lebens, nicht wahr?« sagte Jacob, nicht im geringsten verlegen. »Wir Menschen sind gespaltene Wesen und versuchen, unsere beiden Naturen miteinander zu versöhnen: die spirituelle und die animalische. Darum übrigens trage ich diese Schnur um den Leib: Es ist ein gartel und trennt auf symbolische Weise die höheren von den niederen Bereichen unserer Natur und dient mir zur ständigen Erinnerung an
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