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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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wurden. Die Vorhut der Meute auf der Straße hatte sie an der Flanke überholt und war auf das nächste Dach geklettert, um sie so in die Zange zu nehmen. Auf Sterns Fersen machten sie kehrt, liefen zurück und fanden eine Tür, die ins Tor der Hölle hinunterführte.
    So furchtbar der Gestank auf dem Dach gewesen war, was sie drinnen vorfanden, war geradezu lähmend: eine Abdeckerei, ein Schlachtfeld, das in der Sonne verweste. Alle vier waren gezwungen, Mund und Nase zu bedecken und in einem unablässigen Kampf das aufsteigende Erbrechen niederzuhalten. Stern stöhnte unwillkürlich auf. Jack verteilte kleine Ammoniakkapseln, die sie in ihren Taschentüchern zerdrückten; das brannte in den Augen, neutralisierte aber wenigstens teilweise den Gestank. Jetzt kam es darauf an, einen Weg durch diese alptraumhafte Gruft zu finden; das Licht, das die gefährlichen offenen Gasbrenner verbreiteten, brannte trüb, beinahe verlegen in den engen Fluren, die erfüllt waren vom stickigen Dunst der Öllampen und Kerosinkocher.
    Es war keinerlei System in dem verschlungenen Labyrinth von Korridoren und Treppen zu erkennen; jedes Stockwerk ein chaotisches Wirrwarr von Abriß und schlampigem Wiederaufbau. Sie stolperten von Zimmer zu Zimmer, aber keiner der Bewohner erhob irgendwelchen Protest: Sie waren an Eindringlinge so gewöhnt, daß sie kein Empfinden mehr für Grenzen hatten, die der Verteidigung wert waren. Es gab keinerlei Möbel außer großen, rohgezimmerten Betten, von denen zahllose dumpfe Augenpaare ihnen angstvoll aus der Dunkelheit entgegenstarrten. Leiber krochen aus ihrem Blickfeld, wie überdimensionale Insekten. Aggressive Ratten, so groß wie Terrier, blieben stehen und musterten sie weniger ängstlich als die Menschen.
    Einmal öffneten sie eine Tür, durch die ein wehmütiges Licht in eine düstere Kammer fiel, wo sie schockiert beobachteten, wie die hintere Wand schmelzend zerlief – bis sie begriffen, daß die Bewegung durch einen dichten Teppich aus wimmelnden Kakerlaken verursacht wurde.
    In einer anderen, hallenartigen Höhle verlor Doyle die Übersicht, nachdem er überschlägig sechzig Menschen gezählt hatte, die hier wohnten; die meisten suchten Trost in einem Schlaf, der vom Tod nicht zu unterscheiden war. Die Luft wurde immer dicker, je tiefer sie nach unten vordrangen, und wohin sie sich auch wagten, über allem lag grausige, trostlose Stille. Sie fanden eine sechsköpfige Familie, die sich in dem halbhohen Winkel unter einer Treppe um eine Kerze kauerte, allesamt geprägt vom selben hohläugigen Ausdruck. Ihre ärmliche Habe war um sie herum verstreut: Dies war ihr Zuhause. Die Kinder wirkten greisenhaft, die Eltern verbraucht und bis auf den Kern abgenutzt. Doyle hatte Dickens’ Schilderungen von der verheerenden Armut im London der Jahrhundertmitte gelesen, aber nichts, was er je gesehen hatte, kam diesem unerträglichen Elend gleich. Die Gewalt, die hier verübt wurde, war zuerst und zuoberst eine geistige: Dies war eine kalte, sich alles unterwerfende Hölle, bar aller Sehnsucht, und von ihr ging eine perverse Anziehung aus, die ihren Opfern wie ein Vampir das bißchen Leben aussaugte, das sie noch in sich hatten. Mit welchen hochfliegenden Hoffnungen waren diese verdammten Seelen in die Neue Welt gekommen? fragte sich Doyle, und was er empfand, war ein heißer Wirbel von Erbarmen, Mitleid und Grauen.
    Sie hatten sich drei Stockwerke weit nach unten getastet, bevor sie erkannten, daß von ihren Verfolgern nichts mehr zu hören war; anscheinend gab es Orte, an die sich nicht einmal die Houston Dusters wagten. Es war auch wesentlich einfacher, das Dach zu bewachen, während der Rest ihrer Kampftruppe sie auf der Straße erwartete. Jawohl, und als sie auf einem Treppenabsatz durch ein schmieriges Fenster spähten, standen sie dort unten, fünfzehn Mann stark, vor dem Vordereingang.
    »Was machen wir jetzt?« fragte Stern. Jack antwortete nicht; er orientierte sich über ihre Position, um seinen inneren Kompaß auszurichten, und führte sie dann in die äußerste Westecke des Gebäudes und in einen Raum, an dessen Wänden sich sechs dunkle Haufen auf hölzernen Pritschen drängten – ganze Familien, wie sie erkannten, die ihnen entgegenstarrten wie verwundete Herdentiere, die darauf warteten, daß ein Rudel Raubtiere das Werk vollendete. Doyle sah, daß eine der Gruppen sich schützend um den zerbrechlichen, verhüllten Körper eines toten Kindes drängte. Jack riß das einzige Fenster des

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