Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
dem Polizeiinspektor einen Ordner hin.
»Nein. Nur Ferien.« Hanne lächelte kurz. »Für zwei Wochen.«
»Ich glaub ja nicht, daß du jetzt von der Wache wegbleiben kannst.«
Sie hörten ihn noch lachen, als er schon längst die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Was ist das?« fragte Hanne und zeigte auf den Ordner.
Håkon Sand blätterte darin, und Hanne Wilhelmsen mußte sich zusammenreißen, um ihm nicht über die Schulter zu schauen. Sie ließ ihm zwei Minuten. Dann hielt sie es nicht mehr aus.
»Was ist das denn? Was Wichtiges?«
»Die Waffe. Wir glauben zu wissen, aus was für einer Art Waffe die Kugel stammt.«
»Laß mal sehen«, sagte Hanne eifrig und versuchte, die Papiere an sich zu reißen.
»Na hör mal«, protestierte Håkon und bedeckte den Ordner mit den Händen.
»Schweigepflicht, weißt du. Du bist schließlich beurlaubt. Vergiß das nicht.«
Für einen Moment schien sie zu glauben, er meine es ernst, und starrte ihn ungläubig an.
»Einmal Polizei, immer Polizei. Also wirklich!«
Er lachte und reichte ihr den Ordner.
»Ein Nagant«, murmelte Hanne Wilhelmsen und blätterte weiter. »Vermutlich ein russischer M 1895. Komisch. Verdammt komisch.«
»Wieso das?«
Sie schloß den Ordner, behielt ihn aber auf dem Schoß.
»Eine ungewöhnliche Waffe. Ein Revolver mit einem ganz ausgeklügelten Patent. Im Augenblick der Schußabgabe stülpt sich die Trommelbohrung über das Laufende, und die sich ausdehnende Hülse dichtet den Spalt zwischen Kammer und Lauf ab. So entsteht eine angeblich gasdichte Verbindung. Und das Witzigste daran ist, daß das Patent eigentlich von einem Norweger stammt.«
»Aha?«
»Hans Larsen in Drammen. Er erfand ein eigenes System für gasdichte Revolvergewehre, das er nach Lüttich in Belgien schickte, wo er die Waffen produzieren lassen wollte. Dort haben sie sich aber nicht für das Gewehr interessiert, sondern das Patent geklaut. Dann wurde es gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Rußland zu einem Revolver weiterentwickelt.«
»Du verblüffst mich immer wieder.«
Håkon Sand lächelte, wußte aber, daß einige Kollegen vor Jahren versucht hatten, sie als Waffenexpertin zum Fernsehquiz »Alles oder nichts« anzumelden. Hanne hatte sich geweigert, als das Fernsehen sein Interesse bekundet hatte, und es war nichts aus der Sache geworden.
»Und was bringt diese … gasdichte Verbindung?«
»Größere Präzision«, erklärte Hanne. »Das Problem bei einem Revolver ist meistens, daß zwischen Waffenkammer und Lauf ein Druckverlust entsteht, und das verringert die Präzision. Normalerweise spielt das keine große Rolle, Revolver werden ja nicht auf große Entfernungen benutzt.«
Sie verstummte und las weiter.
»Hier steht, daß nur fünf Waffen dieser Art registriert sind. Aber ihr habt ein großes Problem, Håkon. Ein Riesenproblem.«
Sie klappte den Ordner zu. Für einen Moment schien sie ihn heimlich in eine Tasche stecken zu wollen, die neben ihrem Sessel stand. Aber dann legte sie ihn vor Håkon auf den Tisch.
»Soviel ich weiß, haben wir in diesem Fall mehr als nur ein Riesenproblem«, sagte Håkon und gähnte. »Die Probleme stehen Schlange, könnte man sagen. Aber welches meinst du denn jetzt?«
»Diese Waffe wurde über einen langen Zeitraum hinweg in Massen produziert. Deshalb gibt es sie in sehr vielen Ländern, vor allem im ehemaligen Ostblock. In den fünfziger Jahren haben sie sie billig an ihre Verbündeten in Europa und Afrika verkauft, zum Beispiel an …«
Sie zögerte und fuhr sich kurz über die Augen.
»An den Mittleren Osten. Und es gibt etliche in Norwegen. Auf jeden Fall mehr als fünf. In der Regel sind sie auf kuriose Weise hergekommen. Das Exemplar, das ich gesehen habe, gehörte einem Exilrussen, und der hatte es von seinem Vater. Der Vater hatte im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gekämpft.«
»Eine nicht registrierte Waffe«, sagte Håkon leise und resigniert und blies seine Wangen auf.
»Das hat uns gerade noch gefehlt.«
Hanne Wilhelmsen lachte herzlich und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
»Aber du hast doch wohl nichts anderes erwartet, Håkon? Hast du gedacht, die norwegische Ministerpräsidentin sei mit einer Waffe ermordet worden, die in unserem löchrigen, restlos unbrauchbaren Waffenregister aufgeführt ist? Hast du das wirklich geglaubt?«
9.45, Gesundheitsministerium
Eigentlich wußte niemand so recht, wieso Ruth-Dorthe Nordgaden Gesundheitsministerin geworden war, dachte Edvard Larsen,
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