Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
geschildert, was passiert war zwischen dem Moment, als sie die Ministerpräsidentin zum letzten Mal lebend gesehen, und dem, als sie sie tot in ihrem Büro vorgefunden hatte. Dreimal sei sie zur Toilette gegangen, erzählte sie, und errötend hatte sie hinzugefügt, es habe sich zweimal um klein und einmal um groß gehandelt. Tone-Marit lächelte freundlich und wies sie darauf hin, daß sie nicht alle Details gleichermaßen brauchten.
»Und dann habe ich die Polizei angerufen.«
Wenche Andersen war fertig und atmete auf.
»Sehr gut«, lobte Tone-Marit Steen; sie wirkte jetzt mehr denn je wie eine Vorschullehrerin, und Billy T. schloß die Augen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
Wenche Andersen bedankte sich für das Kompliment mit einem leisen Lächeln. Dann lief sie plötzlich knallrot an. Tone-Marit konnte förmlich sehen, wie die Aufregung die Frau überkam, ihre Halsschlagader schwoll an und pochte und pochte.
»Ich habe etwas vergessen«, sagte Wenche Andersen. »Ich habe schon wieder etwas vergessen.«
Dann rannte sie ins Büro der Ministerpräsidentin, ohne wie sonst um Erlaubnis zu fragen.
»Die Dose«, flüsterte sie und drehte sich zu Billy T. um, der ihr gefolgt war. »Die Pillendose. Haben Sie die mitgenommen?«
»Die Pillendose?«
Billy T. blickte den uniformierten Polizisten fragend an, und der zog die Liste von Gegenständen hervor, die zur näheren Untersuchung ins Labor gebracht worden waren.
»Davon steht hier nichts«, sagte der Wachtmeister und schüttelte den Kopf.
»Was für eine Pillendose?« fragte Billy T. und legte den Kopf schräg, während er seine flache Hand ans Ohr preßte, es tat bestialisch weh.
»So ein hübsches kleines Ding aus emailliertem Silber«, erklärte Wenche Andersen.
Sie zeichnete ein winziges Viereck in die Luft.
»Vergoldet und emailliert. Wenn es nicht sogar aus Gold war. Es sah sehr alt aus und stand immer hier auf dem Tisch.«
Sie zeigte auf die entsprechende Stelle.
»Ich …«
Jetzt sah sie ganz verzweifelt aus, doch in ihre Verzweiflung mischte sich auch etwas wie Scham. Sie zögerte.
»Ich muß es wohl zugeben«, sagte sie dann endlich und starrte auf den Boden. »Einmal habe ich versucht, die Dose …«
Wieder schlug sie die Hände vors Gesicht, und ihre Stimme klang verzerrt, wie durch einen Schalltrichter.
»Ich habe versucht, sie aufzumachen. Aber sie klemmte, und dann stand plötzlich die Ministerpräsidentin im Zimmer und …«
Die Tränen strömten ihr übers Gesicht, und sie rang keuchend nach Atem.
»Es war entsetzlich peinlich«, flüsterte sie. »Ich durfte das doch nicht, und sie … sie hat mir die Dose einfach weggenommen und den Vorfall nie wieder erwähnt.«
Billy T. lächelte die Frau im rostroten Kostüm freundlich an.
»Sie haben heute ganz große Arbeit geleistet«, tröstete er. »Und die Neugier kann uns alle verleiten. Sie können jetzt gehen.«
Doch als alle anderen gegangen waren, stand er noch immer im Büro der Ministerpräsidentin.
»Eine Pillendose«, murmelte er. »Ob da wohl Pillen drin waren?«
17.10, Ole Brumms vei 212
»Ich werde ungeheuer diskret sein«, sagte Hanne Wilhelmsen.
Billy T. war noch nicht so recht überzeugt, daß es richtig gewesen war, Hanne Wilhelmsen mit zu Roy Hansen zu nehmen.
»Sag bitte nichts«, murmelte er, als sie auf das gelbe Reihenhaus zugingen. »Und den Kollegen sagst du auf gar keinen Fall was.«
Als sie die Tür erreichten, glaubte Hanne, aus dem Augenwinkel heraus etwas zu sehen. Sie drehte sich zu einer halbhohen Hecke um, die den schmalen Vorgarten umgab. Aber dort war nichts zu sehen. Hanne schüttelte den Kopf und folgte Billy T., der bereits geklingelt hatte.
Nichts passierte.
Billy T. klingelte noch einmal, aber auch diesmal wurde nicht aufgemacht. Hanne ging das Treppchen wieder hinunter und schaute zum ersten Stock hoch.
»Es ist jemand zu Hause«, sagte sie leise. »Der Vorhang hat sich bewegt.«
Billy T. zögerte kurz, dann preßte er den Zeigefinger noch einmal auf den Klingelknopf.
»Ja?«
Der Mann, der vor ihnen stand, nachdem er wütend die Tür aufgerissen hatte, hatte Zahnpasta in den Mundwinkeln und einen Dreitagebart. Seine Augen waren klein und verschlafen, als sei er eben erst aufgestanden. Er hatte Eierflecken auf dem Hemd, Flecken von altem, dunkelgelben Eidotter. Hanne haßte Eier und mußte sich kurz abwenden. Sie holte tief Luft und lächelte einem Apfelbäumchen zu, das gleich neben der Treppe stand.
»Roy
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