Im Zeichen des Schicksals
Anspruch auf mich zu erheben. Seine Antwort war nicht unerwartet, klang aber in meinen Ohren verdammt ironisch: Dann würden sie eben die Fürsorge anrufen müssen, die mich dann vorübergehend in einer Pflegefamilie unterbringen würde.
Noch so ein Paar wie die Billingtons? Nicht, solange ich ein Wörtchen mitzureden hatte.
Es war schon fast zehn Uhr abends, als man mich zum Schlafen in Ruhe ließ. Nicht, dass ich für Schlaf und Ruhe Zeit gehabt hätte. Aus dem Krankenhaus wegzukommen war Priorität Nummer eins. Einige Minuten lang lauschte ich auf die Geräusche von jenseits der Tür. Irgendwer ging den Flur hinab; seine Schuhe machten dieses scheußliche Quietschgeräusch von Gummi. Ein wenig näher ratterte ein Drucker im Schwesternzimmer, auf das ich den einen oder anderen Blick hatte werfen können, als zuvor die Ärzte ständig in meinem Zimmer ein- und ausgegangen waren. Ansonsten war es ziemlich still, aber ich konnte es nicht riskieren, erwischt zu werden. Also war es wohl das Beste, aus dem Fenster zu klettern.
Nachdem ich eine weitere volle Minute abgewartet hatte, zog ich die Nadel aus dem Katheter und streifte das kleine Herzüberwachungsgerät von meinem Finger, stand auf und ging zu dem langen weißen Schrank in der Zimmerecke hinüber. Die hastigen Bewegungen ließen meine Rippen schmerzen, und der Puls hämmerte mir in den Ohren. Verdammt. Ich lehnte mich zum Verschnaufen an die Wand. In dem Moment wurde die Tür geöffnet.
Ich schätze, es hätte schlimmer kommen können. Ich hätte mich auch mit dem Rücken zur Tür statt zum Schrank an die Wand lehnen können. Dann hätte das Mädchen, das hereinkam, durch die große Öffnung im Krankenhausnachthemd einen ungehinderten Blick auf mein nacktes Hinterteil werfen können. Glücklicherweise war das nicht der Fall, aber das hielt sie nicht davon ab, darüber in Panik zu geraten, dass ich keuchend mitten im Raum stand.
»Mein Gott, warum bist du nicht im Bett!?« Ihr langer brauner Pferdeschwanz hüpfte auf und ab, als sie zu mir herübergeeilt kam und mich an den Schultern packte. Dem folgte eine wahre Sturzflut von Wörtern, die zu ordnen ich meine liebe Not hatte. Sie hieß Melissa Appleton und war wahrscheinlich das hyperaktivste Mädchen, das ich in meinem ganzen Leben kennengelernt hatte. Sie schob mich rasch zurück ins Bett, packte mich ein, befestigte das Herzüberwachungsgerät wieder an meinem Finger, schleppte eine Krankenschwester an, damit sie meinen Arm wieder an den Tropf legte, zog den einzigen Stuhl im Raum an mein Bett und setzte sich dann hin, um mir alles zu erzählen, was am vergangenen Tag passiert war.
»Ich meine, es spielt keine Rolle, dass nicht ich diesen Wagen gefahren habe. Wenn ich einfach aufgepasst hätte, wo ich hintrotte, statt auf diesen dummen Keks in meiner Hand zu schauen, dann hätte er nicht plötzlich ausweichen müssen …«
Melissa wirkte noch immer aufgelöst, als sie mir zum dritten Mal die Geschichte von der Ursache des Unfalls erzählte. Ich hatte ihr bereits zweimal versichert, dass das Ganze nicht ihre Schuld sei, daher schwieg ich diesmal und überlegte mir, dass die Welt noch seltsamer war, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich meine, ich war anscheinend von einem Range Rover überfahren worden, weil ein Mädchen versucht hatte, den Unterschied zwischen einer Rosine und einem Schokosplitter zu bestimmen!
Hier liegt Frau Namenlos. Am Ende wurde ihr ein Schokosplitter zum Verhängnis.
»Blöder Schokokeks! Und eigentlich mag ich Kekse nicht mal. Ich esse viel lieber Schokoriegel. Na ja, das ist genau genommen nicht ganz wahr, denn einmal, auf einem Frühlingsfest, gab es diese Zitronen-Ingwer-Kekse, und die waren wirklich die leckersten …«
Melissa redete pausenlos weiter, über Gebäck und Volksfeste und irgendeine Frau namens Deedee, die sich geweigert hatte, ihr das Rezept für ihre Zitronen-Ingwer-Kekse zu geben – um dann schließlich irgendwann wieder den Bogen zurück zum Unfall zu schlagen.
»Der Kerl am Steuer war Josh Beaumont. Ich fand ja immer, dass er ein bisschen zu sehr von sich selbst eingenommen ist, aber er hat die Sache wirklich super gemacht – nicht, dass ich ihm das jemals sagen würde, sonst steigt es ihm noch zu Kopf. Er hat total schnell reagiert, weißt du? Während ich noch geschrien hab wie ein Vollidiot, hat er dich auf die Autorückbank befördert und uns in Rekordzeit ins Krankenhaus gefahren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das Krankenhaus die ganze
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