Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)
mir möchte gerne lachen. Das ist ja wohl kaum eine Bestrafung. Ich würde alles dafür tun, um nicht zur Schule zu müssen.
Mrs Carter schlägt die Bibel an einer beschädigten Stelle auf. Ihre Stimme klingt plötzlich weich und bedächtig. »Auch darüber haben dein Vater und ich gesprochen.«
Ich runzle die Stirn. Ich habe doch schon gesagt, dass es mir leidtut, und mag mir nicht vorstellen, wie sie hinter meinem Rücken über mich reden und diskutieren.
Mrs Carter zieht ihren Stuhl näher an den Tisch. »Kann ich dir eine Geschichte erzählen, Kara?«
Ich will einfach nur von hier verschwinden.
»Sie handelt von einem Mann, der davon träumt, mit Gott an einem Strand entlangzugehen.«
Ich starre auf meine Hände. Ich bin nicht in der Stimmung, mir eine von Mrs Carters biblischen Geschichten anzuhören.
»Der Mann blickt zurück auf den Weg, den sie gekommen sind, und bemerkt, dass an einer Stelle nur die Fußspuren eines Menschen zu sehen sind. Da wird er wütend auf Gott und sagt: ›Du hast mich verlassen, als ich dich am dringendsten gebraucht habe. Schau doch, im Sand ist nur eine Fußspur.‹«
Ich kratze am losen Ende eines Klebestreifens herum, der die Seite zusammenhält. Eine Erinnerung an Mum schießtmir durch den Kopf, die Erinnerung daran, wie sie mich aus dem Meer getragen hat, nachdem ich auf ein Petermännchen getreten war. Ich hatte meine Arme um ihren Hals geschlungen und in meinem Fuß pochte ein heftiger Schmerz. Ich klammerte mich an sie und betrachtete die Spur ihrer nackten Füße hinter uns. Ich schaue hoch zu Mrs Carter. Das Ende ihrer Geschichte kenne ich schon.
Sie lächelt mich an. »Und Gott hat zu dem Mann gesagt: ›Ich habe dich nie verlassen. Die Fußstapfen, die du dort siehst, sind meine. Weil ich dich getragen habe.‹«
Ich klappe die Bibel zu und schiebe sie rüber zu Mrs Carter.
»Gott verlässt uns nie, Kara.«
»Und was ist, wenn man nicht an Gott glaubt?«, frage ich. Die Worte sind mir aus dem Mund gepurzelt, bevor ich sie aufhalten konnte. Ich weiß, dass Mum nicht an ihn geglaubt hat.
Mrs Carter müsste jetzt eigentlich eine ihrer Volksreden halten, aber das tut sie nicht. Sie steht auf und stellt die Bibel zurück ins Regal, direkt neben den Atlas und das Lexikon. Sie setzt sich wieder an den Tisch. »Weißt du, Kara«, sagt sie, »wenn du jemanden wirklich liebst, wird er dich nicht verlassen, niemals. Ein Teil von ihm wird immer bei dir bleiben, tief in dir drin.«
Ich nicke und rutsche auf meinem Stuhl hin und her. Mir wird mit einem Mal ganz heiß. Ich will nicht, dass sie mit mir über diese Dinge spricht. Ich will einfach nur weg.
»Du kannst jetzt nach Hause gehen.« Mrs Carter lächelt mich an. »Es war gut, dass wir heute miteinander gesprochen haben, Kara.«
Ich renne geradezu aus ihrem Büro und reiße meine Jacke aus dem Spind. Ich will die Schule nicht durch die Vordertür verlassen und an den Kindern im Park vorbeigehen müssen. Stattdessen laufe ich den Flur entlang, der zum Parkplatz auf der anderen Seite der Schule führt. Wenn ich die Ausfallstraße nehme, kann ich auf den Küstenpfad einschwenken, ohne von irgendjemandem gesehen zu werden.
Doch es geht nicht nur darum. Ich will mir selbst einen Grund geben, zur Bucht zurückzukehren, um Ausschau nach den Delfinen zu halten. Dad erwartet mich mindestens in der nächsten Stunde nicht zu Hause, also habe ich noch Zeit. Vielleicht habe ich sogar genug Zeit, um zur Moana zu gehen. Ich kann gar nicht glauben, dass sie noch uns gehört. Felix war heute nicht in der Schule, also schätze ich mal, dass er am Ende doch wieder nach London zurückkehrt. Zwar bin ich froh, dass sein Vater nicht die Moana kauft, aber ein Teil von mir hätte ihn heute gerne in der Schule getroffen.
Von der Schule aus windet sich die Straße unter dem Blätterdach der Alleebäume den Berg hoch. Die tiefen Schatten, die die Äste auf den Asphalt werfen, sehen aus wie Zebrastreifen. In den Lücken zwischen den Bäumen und hinter den heckenbewachsenen Böschungen sehe ich immer wieder kurz das Meer. Über die verkrüppelten und vom Sturm gebeugten Haselnusssträucher ranken sich Klettenlabkraut und Ackerwinde.Über einen Zaunübertritt komme ich zu den Weizenfeldern und laufe dann auf dem stoppeligen Pfad in Richtung Klippen. Der Himmel ist blau und klar. Eine Windbö trägt den Duft der Ginsterbüsche, die am Klippenrand wachsen, zu mir herüber. Eine Möwe schwebt lautlos am Himmel.
Ich krieche durch den Ginster
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