Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Immer diese Gespenster

Immer diese Gespenster

Titel: Immer diese Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
Vom Netzwerk:
die Bedeutung eines Zeichens für den einen oder anderen Mann?
    Die Ungereimtheit der ganzen Sache machte ihn ratlos, da nach allem, was er davon wußte, die übernatürlichen Dinge nie einer gewissen Logik entbehrten. Und selbst wenn es auf den ersten Blick so schien, fanden oder erfanden die Menschen doch für gewöhnlich eine angemessene Erklärung für die Vorkommnisse. Bei dem Spuk in Paradine Hall jedoch fehlte diese Logik, und deshalb wirkte alles vollkommen sinnlos. Es war kaum wahrscheinlich, daß jemand von der Familie das Gespenst spielte und damit das Schloß in Verruf brachte. Das konnte nur die Gäste des Country Clubs vertreiben und die Paradines um ihre Existenz bringen. Wenn auch nur etwas Wahres an der Sage von der Nonne war, die der Familie Paradine als Warnung vor drohendem Unheil zu erscheinen pflegte, warum hatte sie ihre Aufmerksamkeit dann auf eine Fremde konzentriert, eine Amerikanerin, die nicht zur Familie gehörte?
    Hero blickte auf die Uhr; es war zehn Minuten vor drei. Im Schloß war alles still. Er löschte das Licht, denn seine Augen sollten sich an die Dunkelheit gewöhnen. Der abnehmende Mond war spät aufgegangen, und sein Halbrund spiegelte sich im Fluß, der hinter dem Haus vorbeifloß.
    Als seine Augen sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, daß er Gegenstände im Zimmer zu erkennen vermochte, ging er zur Tür und lauschte. Nach einiger Zeit vernahm er ein Geräusch — schleichende, ganz ungespenstische Schritte, die immer wieder innehielten, als wolle die betreffende Person sich vergewissern, daß sie nicht beobachtet wurde. Es waren leichte Schritte, die er hörte. Von seinem Standort hinter der Tür war es Hero nicht möglich, festzustellen, aus welcher Richtung sie kamen, doch eines wußte er mit Sicherheit — es war eine Frau.
    Das Knarren einer Diele verriet ihm, daß sie sich ganz in der Nähe befinden mußte. Er wartete einen Moment und öffnete dann leise die Tür. Ein Streifen Mondlicht fiel in den stockdunklen Korridor; eilige Schritte, ein köstliches Parfum, ein Seufzer — und er hielt eine Frau in den Armen.
    Sie trug ein Nachthemd und Neglige und war so kühl, duftend, weich und appetitlich, wie er es in Erinnerung hatte. Ohne ein Wort suchten ihre Lippen die seinen, und er erwiderte ihren Kuß und umarmte sie leidenschaftlich. So war wohl in mittelalterlichen Träumen der Held mit der Hexe in verzückte Vergessenheit gesunken. Ob sie wohl auch zum Spuk von Paradine Hall gehörte? Nein, ganz gewiß nicht. Das war festes Fleisch; dies waren lebendige, hungrige, suchende Lippen, ein Körper, der vor Leidenschaft bebte. Es war Mrs. Wilson, deren Versprechungen er völlig vergessen hatte.
    Irgendwie gelang es ihm, seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen und die Lippen von den ihren zu lösen.
    «Alexander — liebster Alexander», flüsterte sie. Sie legte den Kopf an seine Brust und klammerte sich zitternd an ihn.
    Hero sagte: «Vivyan — was ist?»
    Sie hob den Kopf, und das Mondlicht ließ erkennen, wie blaß sie war, als sie ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah. Sie schien verwirrt, weil er sie nicht in sein Zimmer zog. Sie sagte leise: «Alexander, ich mußte kommen, ich hatte Angst. Ich habe die Nonne gesehen.»
    Er wußte sogleich, daß sie log. «Wo?» fragte er.
    «Vor meinem Zimmer, glaube ich.»
    «Ach?»
    «Ja, ich hörte ein Geräusch, öffnete die Tür und sah die verhüllte Gestalt. Dann verschwand sie. Ich war starr vor Entsetzen.»
    «Und Ihr Mann?»
    «Er schläft. Wenn er seine Pille genommen hat und eingeschlafen ist, kriegt man ihn so leicht nicht wieder wach.» Dann suchte sie wieder nach seinem Mund und flüsterte: «Alexander — was kümmert es uns? Rasch, rasch!»
    Sie versuchte, ihn mitzuziehen. Aber er empfand plötzlich Widerwillen und Abneigung. Warum? War es Megs Anwesenheit im Schloß, die ihm das Geschenk dieser Frau nicht mehr so verlockend erscheinen ließ? Das war ja lächerlich. Meg war Meg, seine Stiefschwester, die seine Schwäche für hübsche Frauen kannte und darüber lachte. Weshalb mußte sie ihm ausgerechnet jetzt in den Sinn kommen? Woran lag es, daß er unvermittelt ihre belustigten Augen und ihr spöttisches Lächeln vor sich sah? Er verdrängte Meg energisch aus seinen Gedanken; doch Mrs. Wilsons Augenblick war vorbei. Er fand jetzt auch, daß ihre Verführungsversuche etwas zu gekonnt, zu einstudiert und routiniert waren, und ein lächerlicher Satz ging ihm durch den Kopf: