Immer Schön Gierig Bleiben
die Anzug- und Kostümträger, sie stürmten ihrem Zug entgegen, der sie nach Pasewalk, Stuttgart oder Spandau bringen sollte. Ihnen entgegen kamen die späten Vögel, die schrägen, bunten Vögel und die Tänzer, die die Nacht durchgemacht hatten. Neben den Gleisen pulste die elektronische Musik. Pachulke begriff, wie sehr die Stadt einem vorgegebenen Rhythmus folgte, und wie klein in dieser riesigen Ansammlung von Menschen die Fenster von Ort und Zeit waren, um bestimmte Dinge zu erledigen. Als Kriminalbeamter hatte er äußerst unregelmäßige Arbeitszeiten. Als alleinstehender Mensch musste er weder auf Schicht- noch Stundenpläne Rücksicht nehmen. Aber alle anderen folgten dem inneren Rhythmus der Stadt. Wer in Köpenick wohnte und um zehn Uhr früh ins Berghain zum Tanzen wollte, der musste zeitig aus den Federn. Wer auf Stralau eine Frau erwürgen und schminken wollte, hatte höchstens zehn Minuten Zeit dafür. Das Zeitfenster für den Mord wurde entscheidend.
An der nächsten Kreuzung bog der Bus links ab. Ein 240er Bus kam ihnen gerade entgegen. Der 240er fuhr quer durch Lichtenberg. Pachulke wurde schwindlig. Er hatte vergessen, was er aus den Busfahrplänen hatte herauslesen wollen. In der Grünberger stand eine ehemalige Zweigstelle der Volksbücherei leer, daneben hatte der attac-Treff sein Büro. Ein Laden verkaufte Bücher CDs Faustkeile. In der Wedekindstraße stand ein großes Polizeigebäude, gleich gegenüber bog der Bus ab in die Marchlewskistraße und fuhr vor zum U-Bahnhof Weberwiese. Ein Maklerbüro warb in seinem Schaufenster:
Wohnen in der Stalinallee
. Über die Hildegard-Jadamowitz-Straße zum Franz-Mehring-Platz. Schon fast am Ostbahnhof-Netto, links zum Baumarkt Hellweg und zur Metro, am Zaun warb die Insolvenzkiste mit einem Banner:
Ware zu Insolvenzpreisen
. In dieses gewachsene Idyll war die O2-Arena eingebrochen und hatte alles zerstört, kein Wunder, dass die Gentrifizierungsgegner dagegen aufbegehrten. Und dann kam der Ostbahnhof. Uniformierte Polizei. Endstation, bitte alle aussteigen.
Pachulke stand auf dem Vorplatz, auch hier herrschte ein Kommen und Gehen. In der Haupthalle des Bahnhofs gab es Speiseeis. Er holte sich eine Kugel Vanille und eine Kugel Erdbeer-Minze und setzte sich in den Wartebereich. Von Rathenau bis Jadamowitz, so viele Menschen waren von Faschisten ermordet worden. Auch eine Silvio-Meier-Straße in Friedrichshain, an der U 5. Sogar an Kennedy hatte man gedacht am Rathaus Schöneberg, obwohl der gar nicht von Deutschen ermordet worden war.
Die pausenlose Bewegung: Pendler, die aus dem Umland kamen – gerade spazierte wieder ein ganzer Schwung Menschen quer durch die Bahnhofshalle, die alle so aussahen, als seien sie mit dem Regionalzug angekommen. Jeder hatte seine wohlbekannten Trampelpfade zum Arbeitsplatz, zur Universität, in die Lieblingskneipe, zum Friseur oder Therapeuten, auf den Friedhof, wo die Eltern begraben waren. Nur Pachulke ging, wohin der Tod ihn rief, planlos. Es gab Bahnhöfe, wo sich die Ströme der Umsteiger in schlafwandlerischer Sicherheit durchkreuzten, ohne dass einer dem anderen im Weg war. Es gab Baustellen, die der Ortskundige vermied, geschlossene U-Bahn-Ausgänge, Engstellen im Straßennetz. Mit einem Ausfallschritt konnte man auf eine andere Bahnlinie oder auf einen Bus ausweichen. Die Schwungräder beim großen Kommen und Gehen, die Drehkreuze waren die Bahnhöfe. Der Hauptbahnhof, im Niemandsland zwischen Regierungsviertel und den alten Backsteinmietskasernen Moabits. Und vor zwölf Jahren der Bahnhof Zoo, früher das Tor zur westlichen Welt, heute degradiert zu einem Regionalbahnhof. Und dann die Flughäfen, die die Kegelclubs, Einkäufer und Junggesellenabschiede aus Glasgow, Malmö und Valencia ausspuckten. Überall gab es Fahrpläne, Slots, Verspätungen, geschätzte Ankunftszeiten. Nur der Tod schaute ganz überraschend vorbei.
Früher hatten sich wie auf ein geheimes Zeichen für wenige Sekunden ein Dutzend Busse am Hackeschen Markt eingefunden, um mit ihren Passagieren heim in die Vororte oder zum nächsten Club zu entschweben. Heute fuhren S- und U-Bahnen am Wochenende durch.
Verena Adomeit und ihr Mörder mussten sich begegnet sein, außerplanmäßig. Ein Gesicht in der Menge, bekannt, aber längst vergessen, war unerwartet aufgetaucht. Das Wiedererkennen endete tödlich. Verena Adomeit fuhr niemals Bus. Sie hatte ein Auto, doch das musste in die Werkstatt. War ihr Mörder ein regulärer Passagier der Linie 104,
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