Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Immer wenn er mich berührte

Immer wenn er mich berührte

Titel: Immer wenn er mich berührte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
mit Aberglauben nichts zu tun hat. Auch nicht mit Willensstärke oder Willensschwäche. Es ist eine Behandlungsart mit hoher Erfolgsquote.«
    Der Arzt stand auf, schaltete das Deckenlicht aus, so daß nur noch die Schreibtischlampe brannte.
    »Wir wollen mal den ersten Versuch machen. Bitte, legen Sie sich hierher auf die Couch, ganz ruhig und entspannt.«
    Janine gehorchte, wenn auch mit einer gewissen Abneigung. Die Atmosphäre in diesem Zimmer wurde geradezu intim. Aber zum Nachdenken fand sich keine Zeit mehr.
    Dr. Sartorius stand plötzlich hinter ihr, am Kopfende des Ruhebetts.
    »So, nun schauen Sie mir fest und unverwandt in die Augen. Nicht mit den Lidern schlagen … Lassen Sie die Augen offen … Sehen Sie mich an.«
    Monoton wiederholte er diese Befehle.
    Allmählich hatte Janine das Gefühl, als sinke ein Schleier über ihr Gesicht. Die Umrisse des Arztes verschwammen, ihre Augen begannen zu tränen.
    Sie spürte jetzt seine Hände auf ihrer Stirn, hörte seine Stimme: »Schließen Sie jetzt die Augen.«
    Wie müde sie war und wie weit weg …
    »Spüren Sie, wie schwer Ihre Arme sind? Sie können Sie nicht mehr heben – versuchen Sie es nur.«
    Mit großer Anstrengung spannte sie die Muskeln, aber ihre Arme gehorchten ihr nicht mehr. Sie wußte nicht, ob sie wach war oder schlief, sie verlor die Begriffe Zeit und Raum, sie versank, irgendwo, wo es nur eine Stimme gab.
    »Du bist ein Kind, Janine«, sagte die Stimme, »acht Jahre bist du … in die dritte Klasse gehst du … siehst du die Schule?«
    Sie schwieg.
    »Aber das Klassenzimmer siehst du doch, nicht wahr?«
    »Ja. Claudette hat das große Fenster eingeworfen … ihre Hand blutet …«
    »Mitten im Unterricht ist das passiert?«
    »In der Singstunde …«
    »Janine, sing das Lied, das ihr gesungen habt … bevor die Geschichte mit dem Fenster passiert ist.«
    Dr. Sartorius sah, wie die Lippen der jungen Frau sich bewegten, wie sie nach Wörtern suchten, nach einer verlorenen Kindermelodie.
    Und dann sang sie wirklich, den Beginn einer Strophe: »Frère Jacques, Frère Jacques, dormez-vous, dormez-vous …«
    Sie verstummte schnell wieder, so, als hätte es sie große Anstrengung gekostet. Der Arzt strich ihr beruhigend über die Stirn.
    »Janine, steh auf«, befahl er, »da auf dem Tisch liegt ein neues Heft … schreib oben deinen Namen hin.«
    Langsam erhob sich Janine, wie eine Schlafwandlerin trat sie auf den Schreibtisch zu, nahm den Bleistift, zögerte …
    »Deinen Namen«, wiederholte der Arzt.
    Sie setzte sich, stützte den Kopf in eine Hand, schien nachzudenken.
    »Janine, du wirst doch deinen Namen schreiben können.«
    »Nein«, hauchte sie, ohne aufzublicken.
    Bald bekam er überhaupt keine Antwort mehr. Sie starrte verloren durch das Zimmer. Der hypnotische Befehl erreichte sie nicht mehr.
    Dr. Sartorius brach die Sitzung ab. Er ließ Janine auf die Couch zurückkehren und begann mit der Desuggestion, dem langsamen Erwachen aus dem hypnotischen Schlaf.
    »Wie fühlen Sie sich?« fragte er, als Janine ein paar Minuten später wieder ganz normal vor seinem Schreibtisch saß.
    »So, als sei nichts gewesen.«
    »Erinnern Sie sich an etwas?«
    »Nur daran, daß ich plötzlich sehr müde geworden bin.« Sie blickte gespannt auf den Doktor: »Wie war ich? Habe ich gesprochen?«
    Er nickte. »Sie haben ein französisches Kinderlied gesungen, Fräulein Laurent. Sie haben sich an eine Schulfreundin Claudette erinnert …«
    »Und weiter?« fragte sie hastig.
    »Nichts mehr weiter«, erwiderte der Arzt, »aber das habe ich auch gar nicht erwartet. Wir beide müssen Geduld haben, um den Faden Ihrer Vergangenheit aufzurollen.«
    Für Dienstag vereinbarten sie die nächste Sitzung. Eine Sprechstundenhilfe brachte sie zur Tür. Draußen schneite es große Flocken. Die Straße war einsam. Nur ihre Schritte knirschten im Schnee.
    Geduld, dachte sie verächtlich. Immer reden sie von Geduld. Ein Lied hatte sie in der Hypnose gesungen – so etwas Lächerliches. Und wer war diese Claudette?
    Janine fuhr mit der Straßenbahn, stieg irgendwo aus, begann ziellos durch die Straßen zu laufen. Sie spürte weder Hunger noch Müdigkeit. Du kennst München, hämmerte sie sich ein, du warst schon einmal hier, ganz sicher … Hier muß es einen vertrauten Geruch geben, ein vertrautes Gesicht, eine Haustüre, die du kennst …
    In dem Café unter den Arkaden brannte noch Licht. Durch die Scheiben starrte sie hinein. Sie sah fröhliche, lachende Gesichter und

Weitere Kostenlose Bücher