Immer wenn er mich berührte
dieses Mädchen war da, sah ihn mit ihren grünen Augen an, versprach ihm Himmel und Hölle. Wenn er nachts aus wilden Träumen hochfuhr, dann lag sie neben ihm und seine Hände berührten ihre nackte Haut …
Es gab kein Rezept dagegen. Wenn er sich betrank, dann wurde es nur noch schlimmer, dann hörte er unentwegt ihre Worte: »Ich muß es dir trotzdem sagen, Jürgen, ich liebe dich.«
Es war, als hätte er in jener Nacht Gift getrunken. Ein Gift, das langsam wirkte, aber um so verheerender. Er wurde nervöser. Es fiel ihm schwer, seinen Zustand wenigstens so auszubalancieren, daß im Büro niemand etwas davon merkte.
Jürgen zerdrückte den Rest der Zigarette im Aschenbecher. Im Vorzimmer telefonierte jemand, eine Schreibmaschine klapperte. Ein zweites Mal würde Gaby nicht nach Berlin kommen. Sie hatte nicht angerufen, keinen Brief geschrieben. Du bist jetzt an der Reihe, Jürgen, das steckte unausgesprochen hinter ihrem Schweigen.
Herr Westphal ist zur Jagd nach Ungarn. Worauf wartest du, Jürgen?
Er stand auf, froh, einen Entschluß gefaßt zu haben.
»Fräulein Anders, bitte versuchen Sie einen Abendflug nach München zu buchen.«
»Heute?«
»Ja, heute.«
Es klappte. Und es ging sehr schnell. Als er um halb sechs Uhr in Tempelhof über das Rollfeld ging, atmete er auf. Die Spannung der letzten Tage war von ihm gewichen. Er fühlte sich irgendwie befreit.
Früher oder später, dachte er während des Flugs, muß das Leben wieder beginnen. Das Bild von Toten, mochte man sie noch so geliebt haben, nahm mit jedem Tag blassere Konturen an. Gewiß würde er Janine nie vergessen, aber ebenso gewiß konnte er nicht den Rest seines Lebens damit zubringen, Blumen auf ein Grab zu tragen.
Ich bin zu jung, um von Erinnerungen leben zu können. Ich bin zu jung, um das Lachen einzustellen. Ich brauche Erfolg, Liebe, Hoffnungen.
»Meine Damen und Herren, wir werden in wenigen Minuten in München landen. Bitte, stellen Sie jetzt das Rauchen ein und schnallen Sie sich an.«
Jürgen Siebert blickte durch das kleine Seitenfenster in die Nacht hinaus. Er sah die Lichter der Stadt, die Schatten der Propeller, die weiße, schneebedeckte Landschaft unter sich. Er lächelte ein bißchen.
Gleich nach der Landung stürzte er in die nächste Telefonzelle. Er mußte längere Zeit warten, bis die Nummer sich meldete.
»Es tut mir leid«, antwortete der Butler, »das gnädige Fräulein ist nicht zu Hause.«
»Wann kommt sie denn?«
»Ich fürchte, es wird spät, Herr Siebert. Sie ist auf den Fasching gegangen. Venezianische Nacht, soviel ich weiß, im Haus der Kunst.«
»Vielen Dank.«
Nur einen Moment war er unentschlossen. Nur eine Sekunde lang dachte er daran, ins Hotel zu fahren und sie erst morgen anzurufen. Aber dann überlegte er es sich anders.
Nein, nicht noch eine Nacht wollte er von ihr träumen. Er wollte überhaupt nicht mehr träumen, sehen mußte er sie, spüren …
Ein Taxi brachte ihn in die Stadt. Weil bei der Venezianischen Nacht Kostümzwang war, mußte er seine Krawatte abnehmen, einen Türkenhut kaufen, seinen weißen Schal um die Hüften binden. Erst so ließ man ihn in den Tempel des Vergnügens.
Es war kein gewöhnliches Fest. Ihm schien es, als hätte er noch nie so viele Menschen auf einem Ball gesehen. Hier gab es nicht nur Säle, hier gab es Gänge, Treppen, Logen, Bars, obere und untere Räume, Nischen, Verstecke. Wenn eine Kapelle zu spielen aufhörte, drehte sich das Podium und die nächste erschien auf der Bühne.
Jürgen trank Bier, Sekt und Whisky durcheinander, und er fand immer mehr lange Mädchenbeine, die denen von Gaby ähnelten, er hob Schleier hoch, hinter denen er ihr Gesicht vermutete, er ließ sich von schwarzen Visieren täuschen, von frechen Masken bluffen.
Und doch fand er sie.
Eine lachende Fischerin, die gerade von einem venezianischen Edelmann zur Tanzfläche geschleift wurde. Sie sah aus, als trüge sie nur ein paar Fischernetze, die sie kunstvoll um den Leib geschlungen hatte.
Er berührte sie an der Schulter.
Sie drehte sich um.
»An mich hättest du wohl zuletzt gedacht, oder?« sagte er.
»Was weißt du schon von meinen Gedanken, Jürgen«, gab sie zurück, und der Ernst, mit dem sie es sagte, stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu ihrem frivolen Kostüm.
»Kann ich sie nicht erraten?«
»Vielleicht«, lächelte sie, entzog sich ihrem enttäuschten Kavalier und schlüpfte in seine Arme.
Sie tanzten.
So, als wären sie allein, unabhängig von Musik
Weitere Kostenlose Bücher