Immer wenn er mich berührte
schon Bruchstücke Ihres Lebens gefunden haben. In der ersten Sitzung ist klargeworden, daß Sie als kleines Mädchen in eine französische Schule gegangen sind, Sie haben ein französisches Lied gesungen, französisch geantwortet. Heute aber, in der Kirche, haben Sie deutsch gesprochen …«
»Sie meinen, ich bin eine Französin, die einen Deutschen geheiratet hat?«
»Ja, das meine ich. So muß es wohl sein.«
Dr. Sartorius bot ihr eine Zigarette an. Sie machte ein paar Züge, dann sagte sie: »In diesem Fall müßte ich in Deutschland vermißt gemeldet sein. Und es müßte leicht sein, bei der Polizei Auskunft zu bekommen.«
Der Arzt trat an seinen Schreibtisch. »Den Weg können Sie sich sparen, Janine. Ich war bereits bei der Polizei und habe mir die Vermißtenakten zeigen lassen. Es ist keine Frau dabei, auf die auch nur annähernd ihre Beschreibung passen würde.«
Janine blickte nachdenklich auf ihre Fußspitzen. »Am meisten quält mich die Frage, warum mich niemand auf dieser Welt vermißt. Sehen Sie, Doktor, jeder entlaufene Hund wird von seinem Herrn gesucht.«
»Wir wollen uns darauf verlassen, Janine«, sagte Dr. Sartorius, »daß wir auch auf diese Frage eine Antwort bekommen werden. Sie selbst werden uns die Antwort geben – das ist doch fast ein bißchen komisch, nicht wahr?«
»Nein«, murmelte Janine, »es ist überhaupt nicht komisch.«
Der Doktor lachte.
Er half ihr in den Mantel, brachte sie zur Tür. Als nächsten Termin, für die vierte hypnotische Sitzung, verabredeten sie den zwölften Februar.
Dr. Stephan Haller kehrte am 11. Februar nach München zurück. Als er am Bahnhof ausstieg, schien die Sonne. Und es wehte ein lauer Wind, der an Frühling erinnerte.
Das entsprach genau seiner Stimmung. Er kaufte einen großen Rosenstrauß, winkte einem Taxi und ließ sich zu Janines Hotel fahren. In den sieben Tagen, in denen er sie nicht gesehen hatte, war ihm vieles klargeworden.
Er hatte Schluß damit gemacht, sich selbst zu betrügen. Was er für Janine empfand, das war weder Mitleid, noch Freundschaft, noch sonst etwas Ähnliches. Es war Liebe. Und er fand, daß es höchste Zeit war, es ihr zu sagen.
Er hatte tausend Zärtlichkeiten und tausend Worte für sie aufgespart.
Janine, wollte er sagen, was geht uns deine dumme Vergangenheit an. Laß sie uns nicht mehr suchen. Wir lieben uns, und das ist mehr als alte Erinnerungen. Das ist viel mehr.
»Schöner Tag heute, was?« rief der Taxichauffeur nach hinten.
»Ja, das kann man wohl sagen.« Haller lehnte sich zurück. Alle Gesichter, die draußen auf der Straße vorbeiwischten, schienen ihm fröhlich zu sein.
Janine-Marie Laurent – er hatte ihr diesen falschen Namen besorgt. Er wollte ihr dafür einen echten anbieten.
Seinen.
Ich weiß, daß wir glücklich sein werden, Janine. Wir werden in München eine Wohnung suchen, wir werden zusammen Möbel kaufen, meine Mutter wird endlich ihre sehnlichst erwünschten Enkelkinder bekommen, ein Mädchen vielleicht, so blond wie du, so schön wie du …
Als Stephan Haller in der Beethovenstraße ausstieg und den Taxichauffeur bezahlte, hatte er sich ein Hochhaus an Illusionen gezimmert. Und als sie dann wahrhaftig in der Hotelhalle vor ihm stand, da hätte er sie am liebsten fest in seine Arme genommen, in den Schnee hinausgetragen und ihr alles auf einmal gestanden.
Aber schließlich waren sie Erwachsene und mußten sich benehmen. Sich umarmen, sich einen kleinen Kuß geben – ja, das ging gerade noch in einer Hotelhalle.
»Du bist noch schöner geworden«, sagte er strahlend.
»Danke.« Sie lächelte ihn an dabei. Daß es ein unsicheres, unglückliches Lächeln war, merkte er nicht.
»Hast du mich wenigstens vermißt?« fragte er.
»Und wie«, sagte sie.
Daß Janine verändert war, daß sie ein bißchen schweigsamer war als sonst, daß sie manchmal seinen Blicken auswich, daß sie im Grunde Angst hatte, das spürte er bis zuletzt nicht.
Sein Herz war ganz einfach zu voll, der Tag zu schön, die Hoffnung zu groß. Er verträumte an ihrer Seite den ganzen Nachmittag. Er erzählte aus seinem Leben, so, als hätte sie ein Recht darauf, alles zu wissen.
Es begann schon zu dämmern, als sie am Kleinhesseloher See Wildenten fütterten. Sie saßen nebeneinander auf der Steinbrüstung. Drüben, am anderen Ufer, blinkten die ersten Lichter auf.
»Warum hast du eigentlich nie geheiratet, Stephan?« fragte Janine plötzlich, aus ihren Gedanken auftauchend.
»Weißt du«, er legte
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