Immorality Engine
Bahnen. In den meisten Fällen wirkten seine
Bemerkungen für jene, die ihn nicht gut kannten, kurz angebunden und manchmal
sogar überheblich. Oft traf er am Schauplatz eines Einbruchs oder Mordes ein
und verkündete auf der Stelle, wie sich das Verbrechen ereignet hatte. Nach
Veronicas Ansicht verdankte er seine Auffassungsgabe und die Fähigkeit, die
Welt stets durch das Auge des Kriminalisten zu betrachten, seiner jahrelangen
Erfahrung und dem langwierigen Grübeln über die Motive der Männer, die er zum
Galgen, ins Gefängnis oder in eine Anstalt geschickt hatte. In neun von zehn
Fällen betrat er einen Tatort und stieà im
Handumdrehen auf die Lösung. Deshalb
war er in den Rängen von Scotland Yard schnell aufgestiegen, und deshalb
vertraute die Queen ihm sehr. Manchmal aber, in den seltenen Fällen, wenn sein
Spürsinn versagte, wenn ihn die Begleitumstände verblüfften und sich nicht mit
den Erfahrungen deckten, zog er Newbury hinzu.
Newbury verstand sich darauf, die Dinge auf den Kopf zu stellen und
jede gegebene Situation in einem neuen Licht zu sehen. Er nahm einen
Blickwinkel ein, der rückwirkend oft plausibel, im ersten Moment aber derart
unlogisch erschien, dass die meisten Menschen ihm nicht folgen konnten. Das
machte ihn zu einem wahrhaft bemerkenswerten
Detektiv. Er vermochte aus den winzigsten Hinweisen Schlussfolgerungen
zu ziehen, und seine Erfahrungen gingen weit
über die Ausbildung eines normalen Polizeibeamten hinaus. Newbury war
Anthropologe und Experte für den Okkultismus. Seine Arbeit für die Krone drehte
sich meist um den letztgenannten Bereich. Wann immer der Verdacht entstand,
etwas Ungewöhnliches oder Ãbernatürliches könne sich ereignet haben, oder wenn
alle anderen Agenten nicht weiterkamen, zog die Queen Newbury hinzu.
Veronica beobachtete ihn, wie er auf Knien über den Hof kroch und
dabei seinen neuen Anzug ruinierte. Den Kopf beugte er dabei so tief hinunter,
dass er fast mit der Nase den Boden berührte. So ging es eine Weile weiter, bis
er sich von der untersten Treppenstufe zur Hintertür des Geschäfts und wieder
zurück gearbeitet hatte. Dann, von neuer Energie erfüllt, sprang er auf,
steckte die Lupe ein und rannte zu den beiden Bobbys, die mit wachsender
Verwirrung zugeschaut hatten.
»Zeigen Sie mir Ihre linken Schuhsohlen«, verlangte er so gebieterisch,
dass sie sich sofort umdrehten und ihm die Schuhe zeigten. Newbury fuhr sich
mit gespreizten Fingern durch die Haare, bückte
sich, untersuchte die Sohlen und rief: »Ha!«, um gleich danach zu
Bainbridge zu eilen. Veronica erschrak angesichts dieses unvermuteten
Stimmungsumschwungs, war zugleich aber auch erfreut. Eine so groÃe Tatkraft
hatte sie seit vielen, vielen Monaten nicht mehr bei ihm beobachtet.
»Ein Mann, Charles. Er war spät am gestrigen Abend hier, nach dem
leichten Regen. Er ist zuversichtlich und zielstrebig ausgeschritten, und die
Schuhe hatten GröÃe neun und flache Sohlen.« Triumphierend beäugte er den
Inspektor. »Welche SchuhgröÃe hatte der Tote? Dieser Sykes?«
Bainbridge lächelte,
offensichtlich erleichtert über Newburys begeisterten Ausbruch. Zugleich sah er
sich wohl auch bestätigt, da er angeregt hatte, Newbury hinzuzuziehen.
Natürlich war es ihm nicht nur darum gegangen, seinem Freund zu helfen und
einen Vorwand zu finden, den Agenten aus den Opiumhöhlen zu locken. Veronica
war sicher, dass der Chief Inspector tatsächlich völlig ratlos und dringend auf
Newburys Hilfe angewiesen war.
»GröÃe neun«, erklärte Bainbridge. In seinen Augen funkelte es.
»Sehen Sie sich die Hintertür an, Newbury.«
Newbury war wie ein Bluthund, der auf einmal eine Fährte aufgenommen
hatte. Er drehte sich um und ging schnurstracks zur Tür. Neugierig, was nun
kommen würde, folgte Veronica ihm.
Die schwere Holztür trug keine Aufschrift und war wenig
bemerkenswert, aber offensichtlich massiv genug, um Eindringlinge drauÃen zu
halten. Sie war mindestens so dick wie drei Finger â das konnte Veronica
erkennen, weil die Tür jetzt offen stand â und konnte von innen mit einem
mächtigen Riegel und zwei Eisenbolzen verriegelt werden. Sie bestand aus
dunklem Hartholz, vielleicht sogar aus Mahagoni.
Newbury war schon wieder niedergekniet. Auch Veronica bückte sich,
um zu erkennen, was er betrachtete. Er erkundete mit der Hand ein
Weitere Kostenlose Bücher