Immorality Engine

hören waren.
    Alles schien ruhig zu sein. Dieses Haus hier war nicht mit dem Heim
in Wandsworth zu vergleichen, wo Amelia vorher als Patientin gelebt hatte. Dort
hatte Veronica bei jedem Besuch die Klagen der anderen Insassen, die Schreie
der Verrückten und die beharrlichen Hilferufe der Menschen gehört, die zu krank
gewesen waren, um ihren eigenen Zustand zu verstehen. Im Vergleich dazu
erinnerte das Grayling Institute an ein schönes Landhaus oder einen Herrensitz,
in dem ein Adliger wohnen könnte. Es war ein altes Gebäude, und da Dr. Fabian
als Meisteringenieur galt, empfand Veronica es als völlig unpassend, dass er
hier logierte. Sie hätte mit einer modernen Einrichtung voller Laboratorien,
Werkstätten und so weiter gerechnet. Oder wenigstens mit etwas, das sauber und
klinisch wirkte wie ein Krankenhaus, aber nicht mit einem alten Gemäuer.
    Sie eilte weiter. Bald hatte sie in den gewundenen Gängen die
Orientierung verloren und verzichtete darauf, sich den Weg einzuprägen. Sie
folgte vielmehr ausschließlich ihrem Instinkt und drang immer tiefer in das
Haus ein. Unterwegs rüttelte sie an verschiedenen Türen, die strahlend weiß
lackiert und fest verschlossen waren. Nicht lange, und sie hatte den Verfolger
abgeschüttelt. Das ganze Gebäude wirkte mehr oder weniger verlassen. Seit ihrem
akrobatischen Einstieg durch das Fenster hatte sie keine Menschenseele gesehen.
Keine Patienten, keine Krankenschwestern, keine Diener. Sie verfluchte sich
selbst, weil sie annahm, sie sei in ihrer Eile irgendwo falsch abgebogen und in
einen unbenutzten Gebäudeflügel geraten.
    Gerade als sie sich umdrehen und die Richtung wechseln wollte, hörte
sie vor sich ein Geräusch, bei dem sie erschrocken zusammenzuckte. Es klang wie
ein gedämpfter Schrei. Sofort sträubten sich ihr die Nackenhaare. Es hatte
furchtbar vertraut geklungen. War es etwa Amelia? Aber nein.
    Vorsichtig lief Veronica weiter durch den Flur, der vor ihr abrupt
nach rechts abbog. Sie wusste nicht, worauf sie sich gefasst machen sollte.
Seit ihrer Ankunft in der Einrichtung war ihr Unbehagen ständig gewachsen, und
nachdem sie jetzt den grässlichen Schrei gehört hatte, musste sie annehmen,
dass hier etwas Schreckliches im Gange war.
    Der Flur endete vor einer Tür. Sie schlich bis dicht davor und
lauschte angestrengt. Auf der anderen Seite herrschte Schweigen. Sie beugte
sich vor und fragte sich, welchem Zweck ein Raum diente, der so entlegen war.
Der Schrei musste aus diesem Zimmer gekommen sein. Sie presste das Ohr an das
kalte Holz.
    Drinnen hörte sie nun gedämpfte Geräusche wie von einem Tier. Ein
leises Wehklagen, als litte das Wesen, das die Laute von sich gab, schon lange
unter Schmerzen und hätte jede Hoffnung aufgegeben, Aufmerksamkeit zu erregen
oder erlöst zu werden.
    Experimentierte Dr. Fabian etwa mit Vivisektionen? Es hätte sie
nicht gewundert, wenn er seine medizinischen Apparate an Affen, Hunden oder
anderen Säugetieren erprobte, und natürlich wäre es in diesem Fall sinnvoll,
die Tiere weit weg von den anderen Patienten einzusperren, damit niemand
unversehens auf die Versuchsobjekte stieß. Trotzdem, es gelang Veronica nicht,
den nagenden Zweifel, dass Dr. Fabian etwas Schändliches im Schilde führte, ganz
zu unterdrücken. Im Grunde kannte sie den Mann nicht und hatte blind darauf
vertraut, dass er ihre Schwester kurieren würde, aber aus irgendeinem Grund
hatte sie ein flaues Gefühl im Bauch, als stünde etwas Schreckliches bevor. In
Fabians Grayling Institute stimmte etwas nicht.
    Gern hätte Veronica über sich selbst gelacht und sich vor Augen
gehalten, dass ihre Schwester hellsichtig war, während sie selbst offenbar an
Verfolgungswahn litt. Wenn Newbury nun aber richtiglag? Das schreckliche
Ereignis, das er dank seiner okkultistischen Experimente vorhergesagt hatte …
was konnte es sein? Hatte es mit Amelia zu tun? Es gab wohl nur einen Weg, es
herauszufinden.
    Veronica wollte gerade nach dem Türknauf greifen, als jenseits der
Tür ein lautes Kreischen ertönte. Erschrocken zuckte sie zurück und atmete
scharf ein. Ihr Herz raste, und sie biss die Zähne zusammen. Was um alles in
der Welt ging in diesem Raum vor? Sie ließ sich noch einen Moment Zeit, um sich
zu beruhigen, ehe sie wieder auf die Tür zuging.
    Vorsichtig langte sie nach dem Messingknauf und drehte ihn abrupt
herum. Die Tür