Immortalis
drahtiger alter Mann Abu Barsans Wunde verband.
Der Antiquitätenhändler hatte sie durch die Seitengassen der Altstadt zum Haus eines seiner Kontaktleute geführt. Ihren gelegentlichen Bruderzwisten zum Trotz hatten die Kurden einen gemeinsamen, verhassten Feind, und sie halfen einander, wenn es darum ging, den Klauen des türkischen Geheimdienstes MIT zu entgehen.
Drei weitere Einheimische saßen dabei und rauchten. Sie alle diskutierten lautstark auf Kurdisch. Ihrem Tonfall nach zu urteilen, waren sie offensichtlich erbost über das, was passiert war. Schließlich war nicht nur Abu Barsans Neffe, sondern auch einer der ihren getötet worden. Die Auseinandersetzung drehte sich vermutlich um die Folgen – und die potenziellen Vergeltungsmaßnahmen.
Als der Arzt seine Arbeit beendet hatte, ging er mit den anderen hinaus und ließ Mia mit Abu Barsan allein zurück. Bleiernes Schweigen hing zwischen ihnen, während die Rauchschwaden sich allmählich verzogen. Schließlich sah Abu Barsan sie an.
«Sie haben das Buch noch», stellte er fest. Es lag unübersehbar vor ihr auf dem Tisch.
Sie nickte gedankenverloren.
«Was werden Sie jetzt tun?»
«Ich weiß es nicht.» Sie hatte darüber nachgedacht, während der Arzt Abu Barsan versorgte, und sie war zu keinem Schluss gekommen. «Zu meiner Botschaft kann ich nicht gehen. Ich weiß nicht mehr, wem ich noch vertrauen kann.» Sie berichtete ihm, was in Beirut passiert war, und erzählte auch von Evelyns Entführung. Er wurde puterrot vor Wut, als er hörte, was sie über den Hakim berichtete. Saddam hatte Nervengas gegen die Kurden eingesetzt. Sie waren nicht eben sein auserwähltes Volk gewesen, und es war durchaus möglich, ja, sogar wahrscheinlich, dass er die Versuchskaninchen für den Hakim mit Vergnügen aus ihren Reihen geraubt hatte.
Sie erzählte ihm von Corben, erwähnte aber nichts von dem, was Kirkwood ihr auf dem Dach offenbart hatte, sondern stellte ihn als UN-Vertreter dar, der behilflich sein wollte.
Den Rest musste sie erst einmal selbst verarbeiten.
Ein skeptischer Ausdruck trat in sein Bulldoggengesicht. «Dieser UN-Mann. Der das da kaufen wollte» – er deutete mit einem Wurstfinger auf das Buch –, «dem vertrauen Sie?»
Die Frage überraschte Mia, aber dann erinnerte sie sich, wie Kirkwood ihm den silbernen Aktenkoffer gegeben hatte. Plötzlich fügte sich alles zusammen. «Er war von Anfang an Ihr Käufer, nicht wahr?»
Abu Barsan nickte. «Sechshunderttausend Dollar. Futsch.» Er seufzte tief.
Mia zog die Stirn kraus, als sie an Corben dachte. Etwas rumorte in ihrem Hinterkopf, aber sie bekam den Gedanken nicht gleich zu fassen. Sie erinnerte sich, dass Corben den Koffer getragen hatte, aber irgendetwas passte nicht.
Er war allein gewesen.
Keine Verstärkung, kein Sonderkommando, keine türkischen Polizisten, die ihn unterstützt hätten – und sie waren schließlich Verbündete.
Er operierte auf eigene Faust. Ein wild gewordener Agent.
Besorgnis ergriff sie. Kirkwood. Corben hatte ihn in seiner Gewalt. Und wenn überhaupt noch eine Chance bestand, ihre Mom zurückzubekommen, dann mit ihm.
Sie versuchte sich zu überlegen, was Corbens nächster Schritt sein würde. Evelyn interessierte ihn nicht, das war klar. Er hatte die Männer des Hakim umgebracht, und das signalisierte nicht gerade Gesprächsbereitschaft, wenn er die Absicht haben sollte, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Corben verfolgte seine eigenen, ganz privaten Pläne.
Ihn interessierte die Formel. Und das bedeutete, er hatte jetzt ein konkretes Ziel.
«Wollen Sie Ihr Geld zurückhaben?», fragte sie Abu Barsan hoffnungsvoll.
Abu Barsan sah sie an, düster und ratlos.
«Können Sie uns über die Grenze bringen?», fragte sie atemlos.
63
Die Sonne stand hoch am dunstigen Nachmittagshimmel, als der Land Cruiser die Grenze zum Irak überquerte.
Corben hatte kurz zuvor an einem wackligen Obststand angehalten und zwei Flaschen Wasser und ein paar Bananen gekauft. Er hatte Kirkwood mit dem rechten Handgelenk an den Türgriff gebunden, damit er nicht weglaufen konnte, und sie hatten am Straßenrand ihre Blase erleichtert. Dann war er an der langen Schlange der leeren Benzintanker und Busse vorbeigefahren, die darauf warteten, in den Irak einzufahren, und hatte am türkischen Grenzposten angehalten. Der junge, übereifrige Soldat, der dort Dienst tat, war rasch von einem entgegenkommenderen Offizier zum Schweigen gebracht worden, dessen Augen gierig geblitzt hatten, als
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