Immortalis
schnitten sie in die Wipfel der hohen Bäume. Mit grimmigem Gesicht wich Kirkwood instinktiv zurück, die Explosion erahnend, die den Hang verwüsten würde. Er dachte an Evelyn und Mia, als der Hubschrauber ins Trudeln geriet. Es sah aus, als würde er sich seitwärts in die Bäume pflügen, aber im letzten Moment brachte der Kopilot die Maschine wieder unter Kontrolle. Mit einem Ruck bäumte sie sich auf und rollte zurück. Die Rotorblätter lösten sich aus dem Geäst, und der Hubschrauber stieg steil in die Höhe.
Er drehte sich um die eigene Achse und wandte den Angreifern höhnisch den Schwanz zu, bevor er sich in die Kurve legte und den Berg verließ. Entsetzt sah Kirkwood, wie er sich entfernte. Wut und grenzenlose Verzweiflung breiteten sich in ihm aus. Dann hörte er vom Dorf her ein Geräusch. Es war ein lauter Knall, wie er noch nie gehört hatte. Gleich darauf zischte über ihm etwas durch die Luft. Er schaute hoch und sah den dünnen Kondensstreifen einer schlanken, weißen Röhre, die im Bogen über den Himmel zog und dem Hubschrauber folgte. Gleich darauf hatte sie ihn erreicht. Der Kontakt löste eine kleine Explosion aus, und im nächsten Moment loderte ein gewaltiger Feuerball am Himmel auf. Die großen Rotorblätter lösten sich und wirbelten wild in alle Richtungen davon, und der klobige Rumpf überschlug sich einmal, dann schlug er auf den Boden und ging in einer gigantischen Feuerwolke auf.
Evelyn und Mia kamen den Hang heruntergerannt und fanden Kirkwood an einen Baum gelehnt. Der Schweiß lief ihm über das bleiche Gesicht, und er konnte kaum noch die Augen offen halten, aber als er die beiden sah, richtete er sich auf. Abu Barsans Freunde folgten ihnen; der eine hatte immer noch den SA-14-Raketenwerfer auf der Schulter. Die Männer jauchzten vor Freude. Sie fielen einander um den Hals und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Weiter unten wallten schwarze Rauchwolken hinauf ins ersterbende Tageslicht.
Evelyn behielt Kirkwood im Auge, während Mia sich rasch die Blutung an seiner Schulter ansah.
Er wusste nicht, wo er anfangen sollte.
«Evelyn», begann er matt, und die letzten Kräfte wollten ihn verlassen, «ich habe nie …» Er brach ab. Die Last der Reue schnürte ihm die Kehle zu.
Sie sah ihm in die Augen. «Später», sagte sie.
Er nickte dankbar. Aber eins musste er doch sofort wissen. Er sah Mia an, die seine Gedanken erriet. Er wandte sich wieder an Evelyn.
«Ist sie …?» Wieder stockte ihm der Atem, aber er hoffte auf die richtige Antwort.
«Ja.» Evelyn nickte. «Sie ist deine Tochter.»
«Und wie nennen wir dich jetzt?», fragte Mia. «Bill? Tom? Oder noch anders?»
«Tom», bekannte er mit zerknirschtem Lächeln. «Tom Webster.»
Ein Schwall von widersprüchlichen Emotionen überwältigte ihn, ein schwindelerregender Cocktail aus Schuldbewusstsein und Euphorie. Unwillkürlich strahlte er beim Anblick seiner Tochter, die hier oben bei ihm und ihrer Mutter war. Irgendwie war es ihr gelungen, herzukommen und sie zu retten, und jetzt flickte sie ihn zusammen. Plötzlich fühlte er sich sehr alt, aber zum ersten Mal im Leben war es ein gutes Gefühl.
Eine Gestalt, die vom Dorf heruntergelaufen kam, riss ihn aus seinen Gedanken. Es war der Sohn des mochtar . Sein Gesicht war angstverzerrt.
Unzusammenhängende Worte sprudelten aus seinem Mund, aber Kirkwood brauchte nicht lange, um zu verstehen, was er sagte.
Corben war verschwunden.
Und er hatte den mochtar mitgenommen.
70
Die beiden Pferde galoppierten auf den Bergkamm hinauf. Ihre Hufe schleuderten lose Steinchen in die Höhe. Das Getrappel hallte zwischen den Bäumen wider. Das Licht schwand von Sekunde zu Sekunde. Bald würde es völlig dunkel sein, aber Corben hatte keine Wahl. Sie mussten das Dorf unverzüglich verlassen. Er musste entkommen, solange die andern beschäftigt waren. Bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn richten konnten.
Der mochtar führte ihn den Berg hinauf. Er konnte nicht zu weit vorausreiten, denn sein Bewacher hielt ihn buchstäblich an der kurzen Leine. Gleich hinter dem Dorf hatte Corben ihm ein Seil um das Handgelenk gebunden und das andere Ende um seinen Sattelknauf geschlungen. Außerdem hatte er einem der toten Begleiter des Hakim das AK-47 abgenommen. Er hatte noch ein paar Sachen aus dem Land Cruiser holen wollen – zum Beispiel den Koffer mit dem Geld –, aber der Wagen stand auf der Straße vor dem Dorf, und er hielt es für mehr als wahrscheinlich, dass Abu
Weitere Kostenlose Bücher