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I#mNotAWitch 1

I#mNotAWitch 1

Titel: I#mNotAWitch 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuna Stern
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verwunderten Blick zu und überlegte kurz. „Kinder sind unschuldig. Sie tragen noch keine Sünden in sich. Ihre Seelen gehören in den Himmel.“
    Also konnte ich mich nun entscheiden, ob ich ein unschuldiges Kind in den Himmel schickte, oder einen schuldigen Verbrecher in die Hölle?
    Ich horchte in mich hinein, suchte verzweifelt nach einer Antwort, aber alles in meinem Kopf war plötzlich so durcheinander. Ich verfluchte mich dafür, dass ich ihm keinen anderen Wunsch genannt hatte. Doch was wäre dann gewesen? Wäre der Junge gestorben, ohne überhaupt eine Chance auf ein langes Leben gehabt zu haben? Und wie sollte ich ihm nun diese Chance verwehren?
    Und woher konnte ich wissen, ob Lucien die Wahrheit sprach? Vielleicht gab es gar kein Schicksal, das den Tod des Jungen vorgesehen hatte? Vielleicht spielte Lucien nur ein grausames Spiel, um mir eine Lektion zu erteilen?
    Ich sah hinüber zu der Menschenmenge, die bei den Gleisen wartete.
    Alle wirkten ruhig und entspannt.
    Zwei junge Mädchen kicherten miteinander und hatten ihre Köpfe über einem Handy zusammengesteckt.
    Ein alter Mann mit einem Krückstock und einem Dackel stand nahe einer Laterne und hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen.
    Eine Frau in den Dreißigern, auf deren Nacken ich unzählige Tattoos erkennen konnte, hüpfte ungeduldig von einem Bein aufs andere. Ihre schwarzgefärbten Haare ließen einen blonden Ansatz erkennen.
    Und dann war da noch die Mutter von Ben, die Frau, deren Wangen mit zu viel Rouge geschminkt waren, als hätte sie die Schminke so hastig wie nur möglich aufgetragen, deren Haare strubbelig und unordentlich wirkten – und deren Hand in diesem Moment den Kinderwagen losließ.
    „Und?“, flüsterte Lucien. „Du musst dich nun langsam entscheiden.“
    Richtig. Falsch. Gab es da überhaupt einen Unterschied? Was machte das Leben für einen Sinn? Wie wichtig war es, dass der kleine Junge überlebte? Gut. Böse. Wie konnte ich entscheiden, welcher Mensch gut war und welcher nicht? Es war einfach nicht möglich. Es gab keine Grenze, die uns in Kategorien einordnen konnte. Jeder von uns war unterschiedlich. Und in jedem von uns steckte ein Teil von alldem.
    Wollte ich mich überhaupt entscheiden? Hier, in diesem Fall? Konnte ich es?
    Mein Blick huschte zurück zu dem alten Mann, der laut hustete. Seine Ohren waren völlig rot angelaufen von der Kälte. Er hatte den Großteil seines Lebens bereits hinter sich. Wie alt war er wohl? Achtzig? Ich könnte ihn nennen. Ich könnte jeden von ihnen nennen.
    Aber ich tat es nicht. Keiner dieser Menschen hatte es verdient, dass ich über sie richtete. Und was, wenn sie sich den Tod wünschten? Selbst dann konnte ich ihnen die Wahl nicht abnehmen. Es war das Schicksal, das darüber bestimmte. Das verdammte, grausame Schicksal, das ich nicht genauer definieren konnte. Was war es? Wer war das Schicksal? Konnte man es überhaupt definieren?
    Ich hörte das Rattern eines Zuges und sah, wie die Mutter von Ben sich kurz abwandte, um an ihr Handy zu gehen. Ich schloss die Augen.
    „Quinn? Was nun?“ Luciens Stimme hörte sich mit einem Mal so verzerrt an. War etwa auch er nervös?
    Seine Hand legte sich auf meine Schulter. Diesmal zuckte ich nicht zurück.
    „Was sollen wir tun?“, fragte er liebevoll.
    „Gar nichts“, antwortete ich mit tobendem Herzen. „Ich kann nicht einfach... Es geht nicht...“
    Es war nicht möglich. Ich konnte nicht sagen, wer es verdient hatte zu leben und wer nicht. So war ich einfach nicht. Jeder hatte eine zweite Chance verdient. Selbst jemand, der eigentlich für die Hölle vorgesehen war. Ob nun Verbrecher oder nicht, ich wäre nicht besser, wenn ich mein eigenes Recht gültig machen würde. Wer war ich schon? Ein naives, sechzehnjähriges Mädchen, das keine Ahnung vom richtigen Leben hatte.
    Ich musste die Klappe halten und das Schicksal walten lassen, so sehr es mir auch das Herz brach.
    Ein Krachen ertönte. Mehrere Schreie. Eine Frau, die um Hilfe bat. Weitere Schreie. Und das beständige Rattern eines Zuges... Plötzlich ein ohrenbetäubender Aufprall, bei dem die Schreie der Frau zu einem lauten Heulen anstiegen. Und das quietschende Bremsen des Zuges, das zu spät kam.
    „Oh, nein“, wisperte ich. „Oh, nein.“ Und in diesem Moment begriff ich, warum Phoebe in der Nacht der Zeremonie ihre Augen geschlossen hatte.
    Lucien schloss seine Arme um mich, flüsterte mir besänftigende Worte zu – und ich ließ es geschehen, weil mir nichts anderes

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