Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imperator

Imperator

Titel: Imperator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
Vom Netzwerk:
auf Sänften und Tragsesseln. Alle strömten nach Osten. Es war, als hätte jemand die Stadt hochkant gestellt und ihre Einwohner wie Öl aus einem Topf gekippt, sodass sie sich in Richtung Rutupiae ergossen, wo heute der Kaiser landen sollte.
    Brigonius kam sich auf seinem Stein neben dieser
glanzvollen Menge fehl am Platz vor, wie ein ungeschlachter Bauerntölpel aus dem Norden. Aber er war schließlich hierher bestellt worden, rief er sich ins Gedächtnis.
    Er holte Severas Brief aus seiner Reisetasche und las ihn erneut. Er war in blauer Farbe auf ein kleines, zusammengeklapptes, dünn gehobeltes Rechteck aus Holz mit einer senkrechten Kerbe in der Mitte geschrieben. Sein Name stand auf der Außenseite, zusammen mit einer Adresse: Vindolanda, das große, mitten in Brigantien hineingepflanzte Kastell, mit dem Brigonius eine Menge Geschäfte machte. Im Innern war der lateinische Text mit säuberlicher, ziemlich kleiner Handschrift in zwei ordentliche Spalten geschrieben. Aber er begann mit einem großzügigen Gruß – »von Claudia Severa an ihren Freund Brigonius, ich grüße dich« – und endete mit einer blumigen Ausschmückung der Unterschrift – »in der Hoffnung, dass du beim Eintreffen dieses Schreibens ebenso wohlauf und vom Glück begünstigt sein mögest wie ich und meine Tochter, C. Severa« –, beides in anderer Handschrift als der Hauptteil des Textes, den vermutlich ein Schreiber auf Diktat abgefasst hatte.
    Brigonius konnte lesen und schreiben. Das musste er auch. Sein Vater war vor zwei Jahren gestorben, sodass Brigonius im Alter von nur zwanzig Jahren alleiniger Besitzer des familiären Steinbruchunternehmens geworden war. Sein Hauptkunde war das römische Heer, das Haustein für seine Kastelle und Straßen, seine Heiligtümer und Badehäuser verschlang. Und das
Heer war ein Bienenstock, in dem unablässig geschrieben wurde; ein Soldat konnte nicht einmal furzen, so schien es, ohne dass ein rangniederer Offizier eine Notiz darüber abfasste.
    Brigonius war also an Briefe gewöhnt. Einen Brief wie diesen hatte er jedoch noch nie erhalten. Er kam von weither, nämlich aus Rom: ein Brief aus Rom, an ihn adressiert. Die Briefschreiberin, eine vornehme Römerin namens Claudia Severa, behauptete, es gebe eine familiäre Verbindung zwischen ihr und Brigonius; eine Vorfahrin von ihr habe einen seiner Vorfahren gekannt.
    Und im Brief war die Rede vom bevorstehenden Besuch des Kaisers in Britannien. Das war keine Neuigkeit; jedermann sprach seit Monaten davon. Aber, schrieb Severa, der Besuch werde ihren beiden Familien, der von Brigonius und der von Severa, die Gelegenheit bieten, sehr reich zu werden. Woher wusste sie das alles? Aus einer Prophezeiung, erklärte sie.
    Brigonius wusste nicht recht, was er von all dem halten sollte. Der Hinweis auf Profite erregte seine Aufmerksamkeit, aber das Gerede von Familiengeschichten und Prophezeiungen schreckte ihn ab. Die abergläubischen Römer waren besessen von der Vergangenheit und der Zukunft, von toten Ahnen und Weissagungen künftiger Zeiten. Besser, man lebte in der Gegenwart und genoss das Jetzt, dachte er. Während er auf diesem Meilenstein saß und die selbstzufriedenen Cantiacer-Bürger an ihm vorbeieilten, fragte er sich, ob er seine Zeit verschwendete.

    Doch dann erschienen die beiden Frauen. Und schon im ersten Moment seiner Begegnung mit Severa – oder vielmehr mit ihrer Tochter, Lepidina – waren all seine Zweifel wie weggeblasen.

II
    Claudia Severa und ihre Tochter waren in einer kleinen Kutsche mit leuchtend rotem Stoffdach unterwegs. Ein Diener, wahrscheinlich ein Sklave, führte zwei gefügige Pferde. Severa und Lepidina stiegen mit etwas deplatzierter Anmut aus der Kutsche und kamen auf Brigonius zu. Die Mutter mochte vierzig Jahre alt sein, die Tochter achtzehn oder neunzehn. Die zwei sahen sich sehr ähnlich; beide waren auffallend blass, und ihr rotblondes Haar türmte sich zu exotischen Skulpturen auf.
    Die ältere Frau trug eine Stola, einen strahlend weißen Tuchstreifen mit purpurroten Verzierungen. Unter ihrer weiten Kleidung steckte ein wohlgeformter Körper mit ausgeprägtem Busen, und sie ging mit wiegenden Hüften. Sie war sinnlich, sah jedoch kräftig aus, beinahe muskulös. Dies war eine eindrucksvolle Frau, dachte Brigonius sofort.
    Die Tochter war schmaler und schlanker, und sie bewegte sich mit einer geschmeidigen Schönheit. Sie trug einen langen Rock und eine Tunika in Rosa und Silbergrau  – die Farben

Weitere Kostenlose Bücher