Imperium
Wahlrecht. Wer südlich des Po lebte, durfte wählen, wer nördlich davon lebte, nicht. Die von Pompeius und Caesar angeführten Populären waren dafür, das Bürgerrecht über den Fluss bis zu den Alpen auszudehnen; die Aristokraten und ihr Wortführer Catulus witterten eine Verschwörung, die ihre Macht weiter schmälern sollte, und waren dagegen. Cicero befürwortete natürlich eine Ausdehnung des Wahlrechts so weit wie möglich - das war seine zentrale Wahlkampfaussage.
Nie zuvor hatte man in dieser Gegend einen Wahlkämpfer fürs Konsulat gesehen. In jedem kleinen Ort kamen Hunderte von Menschen, um Cicero zu hören. Normalerweise stand er hinten auf einem unserer Wagen und sprach von dort zu den Leuten. Er hielt überall die gleiche Rede, sodass ich schon bald meine Lippen synchron mit seinen bewegen konnte. Er brandmarkte eine Logik als Unsinn, die behauptete, dass ein Mann, der auf einer Seite eines Wasserlaufes wohne, ein Römer sei, sein Vetter auf der anderen Seite aber ein Barbar, obwohl beide Latein sprächen. »Rom, das ist nicht nur eine Sache der Geografie«, rief er aus. »Rom wird nicht bestimmt durch Flüsse, Berge oder gar Meere; Rom ist keine Frage des Blutes, der Rasse oder Religion; Rom, das ist ein Ideal. Seit unsere Vorfahren vor zehntausend Jahren aus diesen Bergen hinunter in die Ebenen zogen und lernten, als Gemeinschaften unter der Herrschaft des Rechts zu leben, ist Rom die vollkommenste Verkörperung von Freiheit und Recht, die die Menschheit je gesehen hat.« Wenn also seine Zuhörer eine Stimme hätten, so schloss er, dann müssten sie sie zum Wohl derer verwenden, die keine hätten, denn das sei ihr Anteil an der Zivilisation, ihr besonderes Geschenk, das so wertvoll sei wie das Geheimnis des Feuers. Jeder Mann solle zumindest einmal in seinem Leben Rom gesehen haben. Und sie sollten gleich im nächsten Sommer, wenn das Reisen bequem sei, nach Rom kommen und auf dem Marsfeld ihre Stimme abgeben, und falls sie jemand fragte, warum sie die weite Reise auf sich genommen hätten, »dann antwortet, weil Marcus Cicero uns geschickt hat!«. Daraufhin sprang er vom Wagen, bahnte sich seinen Weg durch die applaudierende Menge und verteilte dabei aus einem Sack, den einer seiner Helfer trug, mit vollen Händen Kichererbsen, und ich folgte ihm wie ein Schatten, nahm seine Anweisungen entgegen und notierte Namen.
Während des Wahlkampfs lernte ich viel über Cicero. Trotz der vielen Jahre, die wir bereits zusammen verbracht hatten, behaupte ich sogar, dass ich in diesen Kleinstädten südlich des Po - Faventia etwa oder Claterna - sein Wesen erst richtig kennenlernte. In den Momenten, wenn die spätherbstliche Sonne langsam zu verblassen begann und ein kalter Wind von den Bergen herunterwehte, wenn die Lichter in den kleinen Läden entlang der Hauptsraße entzündet wurden und die Augen der einheimischen Bauern ehrfürchtig hinaufblickten zu dem berühmten Senator, der, die drei Finger ausgestreckt, auf seinem Wagen stand und von den Errungenschaften Roms erzählte, da erkannte ich, dass er trotz all seiner Kultiviertheit immer noch einer von ihnen war - ein Mann aus einer kleinen Provinzstadt mit einem idealisierten Traum von der Republik und davon, was es bedeutete, ein Bürger zu sein. Dieser Traum loderte umso heftiger in ihm, weil auch er ein Außenseiter war.
In den nächsten zwei Monaten widmete sich Cicero voll und ganz den Wählern in Gallia Cisalpina, vor allemjenen in der Gegend um die Provinzhauptstadt Placentia, die direkt am Po liegt und in der die Diskussion um das Bürgerrecht ganze Familien entzweite. Sein Wahlkampf wurde entschieden unterstützt vom Statthalter Piso - merkwürdigerweise jener Piso, der Pompeius das Schicksal von Romulus angedroht hatte, sollte er weiter seine Pläne nach dem alleinigen Oberbefehl verfolgen. Aber Piso war Pragmatiker, und außerdem hatte seine Familie wirtschaftliche Interessen jenseits des Po. Deshalb befürwortete er die Ausdehnung des Wahlrechts. Er stattete Cicero und sein Gefolge sogar mit besonderen Befugnissen aus, damit sie sich freier bewegen konnten. Die Saturnalien verbrachten wir in Pisos eingeschneitem Amtssitz. Der Statthalter fand mehr und mehr Gefallen an Ciceros Umgangsformen und Intelligenz, sodass er ihm eines Abends, als er schon ziemlich viel Wein getrunken hatte, auf die Schulter klopfte und verkündete: »Cicero, du bist ja doch ein ganz anständiger Bursche. Ein anständigerer Bursche und ein anständigerer Patriot,
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