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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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lag, mit dem Gesicht zur Wand, die Finger dagegengepresst. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals vor ihm aufgewacht zu sein, und beobachtete ihn, fast schon neurotisch, bis ich sah, dass seine Brust sich unter seinem abgetragenen T-Shirt hob und senkte.
    Dann kletterte ich aus dem Bett. Wahrscheinlich würde er jeden Moment aufwachen – halb wünschte ich es mir, halb hoffte ich auf das Gegenteil –, doch er behielt seine verrenkte Schlafhaltung bei. Es sah aus, als hätte jemand ihn aufs Bett geworfen.
    Durch meine Adern pulsierte die verhängnisvolle Kombination aus zu wenig Schlaf und übersteigertem Wachsein, daher brauchte ich länger als gedacht, um hinaus in den Flur zu stolpern, und dann noch einen Moment, bis mir wieder einfiel, wo das Badezimmer war, und als ich endlich dort anlangte, hatte ich keine Haarbürste und keine Zahnbürste und das Einzige, was ich zum Anziehen fand, war ein T-Shirt von Sam mit dem Logo einer Band, die ich nicht kannte. Also nahm ich seine Zahnbürste und versuchte mir einzureden, dass das kein bisschen ekliger war, als ihn zu küssen. Fast glaubte ich es auch. Schließlich fand ich neben einem ziemlich übel aussehenden Rasierer seine Haarbürste, die ich benutzte, während ich Ersteren nur skeptisch beäugte.
    Ich warf einen Blick in den Spiegel. Es war, als lebte ich auf der falschen Seite davon. Zeit hatte hier keinerlei Bedeutung. »Ich muss Rachel sagen, dass ich noch lebe«, sagte ich zu mir selbst.
    Das klang zunächst auch wie eine ziemlich gute Idee, bis ich anfing, darüber nachzudenken, auf wie viele Arten es schiefgehen konnte.
    Ich sah noch einmal in Sams Zimmer – er schlief immer noch – und ging dann nach unten. Einerseits wünschte ich mir, dass er aufwachte, andererseits genoss ich dieses Gefühl, allein, aber nicht einsam zu sein. Es erinnerte mich an die vielen Male, die ich gelesen oder Hausaufgaben gemacht hatte, während Sam im selben Raum war. Zusammen, aber schweigend, zwei Monde in derselben Umlaufbahn.
    Unten fand ich Cole, schlafend auf der Couch, einen Arm über den Kopf gestreckt. Mir fiel ein, dass es im Keller eine Kaffeemaschine gab, also schlich ich auf Zehenspitzen durch den Flur und die Treppe hinunter.
    Das Untergeschoss war gemütlich, aber irgendwie auch desorientierend – ohne Fenster und frische Luft, das einzige Licht spendeten Lampen, sodass man unmöglich sagen konnte, welche Tageszeit gerade herrschte. Es war ein seltsames Gefühl, wieder hier unten zu sein, und mich beschlich ein eigenartiger, verwirrender Hauch von Traurigkeit. Das letzte Mal war ich nach dem Autounfall hier gewesen und hatte mit Beck über Sam geredet, der zum Wolf geworden war. Damals hatte ich geglaubt, er wäre für immer fort. Und jetzt war es Beck, der niemals wiederkommen würde.
    Ich schaltete die Kaffeemaschine ein und ließ mich in den Sessel fallen, in dem ich auch bei meinem Gespräch mit Beck gesessen hatte. Hinter seinem leeren Platz erstreckten sich Regale mit Hunderten von Büchern, die er nie wieder lesen würde. Jede Wand war von ihnen bedeckt; die Kaffeemaschine war in die einzigen paar Zentimeter Regal gequetscht, auf denen keine Bücher standen. Ich fragte mich, wie viele es wohl sein mochten. Wenn ein Buch im Schnitt ungefähr drei Zentimeter dick war? Vielleicht tausend Stück. Vielleicht auch mehr. Selbst von hier aus konnte ich sehen, dass sie sorgfältig geordnet waren, Sachbücher nach Themen, die zerlesenen Romane nach ihren Autoren.
    So eine Bibliothek wollte ich auch haben, wenn ich in Becks Alter war. Nicht diese Bibliothek. Eine Höhle aus Wörtern, die ich mir selbst gebaut hatte. Ich wusste nicht, ob das jetzt noch möglich war.
    Seufzend stand ich auf und durchstöberte die Regale, bis ich ein paar Schulbücher fand, mit denen ich mich auf den Boden setzte und vorsichtig meine Kaffeetasse neben mir abstellte. Ich war nicht sicher, wie lange ich so dort gehockt und gelesen hatte, als ich die Stufen leise knarren hörte. Ich sah auf und mein Blick fiel auf ein Paar nackte Füße, die die Treppe herunterkamen: Cole, ungewaschen und zerzaust, im Gesicht einen Abdruck des Sofakissens.
    »Hi, Brisbane«, begrüßte er mich.
    »Hi«, sagte ich. »St. Clair.«
    Cole ging zur Kaffeemaschine und brachte gleich die ganze Kanne mit zu meinem Platz auf dem Boden. Schweigend und ernst füllte er meine Tasse auf und goss sich danach selbst ein. Dann legte er den Kopf schief, um die Titel der Bücher zu lesen, die ich aus dem Regal gezogen

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