Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
menschlichen Gedanken festzuhalten. Viel war es nicht. Aber sie erinnerte sich an Gesichter und konnte zu Orten zurückfinden, an denen sie als Mensch gewesen war, nicht als Wolf.«
    Jetzt wurde mir klar, warum er mich so ansah. Auch Grace sah mich an. Ich wandte mich ab. »Lasst uns diesen Waschbären hier rausholen.«
    Ein paar Sekunden lang standen wir bloß schweigend da, ein bisschen benommen durch den Schlafmangel, bis mir plötzlich aufging, dass ich irgendwo ganz in meiner Nähe Geräusche hörte. Den Kopf schief gelegt, hielt ich einen Moment inne und lauschte, um zu bestimmen, woher sie kamen.
    »Ach, nein«, entfuhr es mir. Hinter einer Plastikmülltonne, direkt neben mir, hockte ein zweiter, größerer Waschbär und lugte misstrauisch zu mir hoch. Wie es aussah, war er besser im Verstecken als der erste, denn bis jetzt hatten wir ihn überhaupt nicht bemerkt. Grace verrenkte sich den Hals, um über das Auto hinweg zu sehen, was ich meinte.
    Ich hatte nichts außer meinen bloßen Händen, also benutzte ich sie und packte den Griff der Mülltonne. Ganz langsam schob ich sie an die Wand, um den Waschbären zu zwingen, auf der anderen Seite hervorzukommen.
    Sofort flitzte das Tier an der Wand entlang, geradewegs durch das Tor und in die Nacht hinaus. Kein Zögern. Bloß ab durch das Garagentor.
    »Zwei?«, fragte Grace. »Das –« Sie schwieg, als der erste Waschbär, inspiriert durch den Erfolg seines Kumpans, hinter ihm her nach draußen huschte, diesmal ohne Umweg über die Gießkanne.
    »Pfff«, machte sie. »Jetzt kapierst du also, wofür Ausgänge gut sind. Na ja, so lange hier nicht noch irgendwo ein dritter rumlungert.«
    Ich ging zum Garagentor, um es zu schließen, und dabei fiel mein Blick auf Cole. Er starrte den beiden Waschbären hinterher, die Augenbrauen zusammengezogen, und sein Gesichtsausdruck wirkte ausnahmsweise mal nicht sorgfältig durchkomponiert, um den Betrachter irgendwie zu Coles Vorteil zu beeinflussen.
    Grace wollte etwas sagen und folgte dann meinem Blick zu Cole. Sie verstummte.
    Eine geschlagene Minute lang standen wir schweigend da. In der Ferne hatten die Wölfe angefangen zu heulen und die Härchen in meinem Nacken kribbelten.
    »Da haben wir unsere Lösung«, sagte Cole. »Genau so hat Hannah es gemacht. So kriegen wir die Wölfe raus aus dem Wald.« Er wandte sich mir zu. »Einer von uns muss sie führen.«

KAPITEL 31
GRACE
    Als ich am Morgen aufwachte, fühlte ich mich wie im Ferienlager. Mit dreizehn war ich zwei Wochen in einem Sommercamp gewesen, das meine Großmutter mir spendiert hatte. Ich fand es toll dort – zwei Wochen, in denen jeder Augenblick verplant war, jeder Tag pure, gebrauchsfertige Aktivität, die schon morgens ausgedruckt auf bunten DIN-A4-Zetteln in unseren Fächern auf uns wartete. Das genaue Gegenteil des Lebens mit meinen Eltern, die für so was wie Zeitpläne nur ein müdes Lächeln übrighatten. Es war fantastisch und zum ersten Mal wurde mir klar, dass es vielleicht auch andere, genauso richtige Wege zum Glück gab als den von meinen Eltern vorgeschriebenen. Das Problem mit dem Ferienlager war nur, dass es eben nicht mein Zuhause war. Meine Zahnbürste war voller Flusen aus der Vordertasche meines Rucksacks, weil Mom vergessen hatte, vor meiner Abreise Plastiktütchen zu kaufen. Die Federn des Etagenbetts bohrten sich mir unangenehm in die Schulter, wenn ich versuchte zu schlafen. Das Abendessen war gut, aber sehr salzig und ein kleines bisschen zu weit weg vom Mittagessen, und anders als zu Hause konnte ich hier nicht einfach zwischendurch in die Küche marschieren und mir ein paar Salzbrezeln holen. Es war lustig und anders und nur dieses winzige bisschen falsch, das es verwirrend für mich machte.
    Und jetzt saß ich hier, in Becks Haus, in Sams Zimmer. Es war kein richtiges Zuhause für mich – zu Hause, das rief bei mir immer noch die Erinnerung an Kissen hervor, die nach meinem Shampoo dufteten, meine zerfledderten alten John-Buchan-Bücher, die ich bei einem Büchereiausverkauf erstanden hatte, wodurch sie mir doppelt ans Herz gewachsen waren, das Plätschern im Badezimmer, wenn mein Vater beim Rasieren das Wasser laufen ließ, bevor er zur Arbeit ging, das Radio im Arbeitszimmer, das leise, ernste Selbstgespräche führte, und die unendlich heimelige Logik meiner eigenen alltäglichen Morgenroutine. Gab es dieses Zuhause überhaupt noch?
    Schlaftrunken setzte ich mich in Sams Bett auf und stellte überrascht fest, dass er neben mir

Weitere Kostenlose Bücher