In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
liegt das Problem.«
»Wie bitte?« Verwirrt hob Anya den Kopf.
»Er hat für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat, zwanzig Jahre hinter Gittern gesessen und wird dann für ein weiteres Verbrechen, das er ebenfalls nicht begangen hat, wieder eingesperrt. Raten Sie mal, was das an Entschädigungszahlungen bedeutet.«
Endlich ging Anya ein Licht auf. Eine Rehabilitierung Willards hatte nur geringe Priorität, was dem Staat günstigerweise auch etliche Millionen Dollar und eine gewaltige Blamage ersparte. Wie hatte sie nur so naiv sein können?
»Ich kann keine Untersuchung anordnen, solange Sie mir in der Dorman-Sache nicht etwas deutlich Handfesteres vorlegen.«
»Wie wäre es mit einer weiteren Leiche? Vielleicht haben wir ja Glück, und der Mörder sticht noch einmal jemanden ab.«
Morgan atmete tief durch. »Tun Sie sich das nicht an. Das System ist nun einmal nicht vollkommen, und das wird es auch nie sein. Solange wir Menschen wie Sie haben, werden weniger Menschen das durchmachen müssen, was Geoffrey Willard erleiden musste.«
Das war kein großer Trost. Aber wenn ein Gentest am Geld scheiterte, dann hatte sie eine bessere Idee. »Und wenn ich meine Rechnung für die Begutachtung von Carneys Fällen unter den Tisch fallen lasse?«
Die Coronerin musste noch einmal niesen und tupfte sich die Nase ab.
»Damit dürften die Kosten für eine Überprüfung der Kleidungsstücke so ziemlich gedeckt sein, würde ich meinen«, fügte Anya hinzu.
Beide Frauen lächelten und hatten verstanden.
Anya schüttelte der Älteren die Hand. »Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«
»Nehmen Sie diese staubigen Tüten von meinem Schreibtisch, und wir sind quitt.«
Mit einem wahren Triumphgefühl kehrte Anya ins Zentrum für sexuelle Übergriffe zurück. Endlich einmal lief etwas in die richtige Richtung. Dann sah sie die ernste Miene Mary Singers.
»Hast du meine Nachricht bekommen?«
Anya sah auf ihr Handy. Sie hatte vergessen, es über Nacht aufzuladen. »Akku leer, tut mir leid.« Sie hatte es so eilig gehabt, zu Morgan Tully zu kommen, dass sie auch den Piepser daheim vergessen hatte.
»Eine Frau ist im Wartezimmer. Sie sitzt schon seit zwei Stunden da und sagt kein einziges Wort. Wie katatonisch.«
Anya folgte der Therapeutin in ein Zimmer mit Klubsesseln. Es diente als Wartezimmer und wurde bei Bedarf auch für die Therapiesitzungen benutzt.
Dort saß eine junge, blonde Frau und starrte aus dem Fenster. Sie trug Jogginghosen und eine Windjacke, hatte die nackten Füße auf den Sessel gestellt und die Knie ans Gesicht gezogen. Beunruhigend war, dass sie sich vor und zurück wiegte. Nicht heftig, aber ständig.
Vor der Tür flüsterte Mary: »So sitzt sie schon da, seit sie gekommen ist.«
»Kennen wir ihren Namen?«
»Laut Führerschein Emily Mirivac. Sie ist achtzehn.«
Anya betrat das Zimmer und kniete sich vor die junge Frau.
»Emily, ich bin Anya. Ich bin Ärztin und möchte Ihnen helfen.«
Emily hörte auf, sich zu wiegen, und wandte Anya das Gesicht zu. Die linke Gesichtshälfte war bis über das Auge zugeschwollen, aber den größten Teil des Schlags hatte der Wangenknochen abbekommen.
»Das tut bestimmt weh.« Sie verlagerte das Gewicht auf das andere Knie und streckte den Arm nach der Minibar aus. Aus dem Eisfach nahm sie ein Päckchen Gel-Eis, das sie in ein Papiertuch vom Tablett darüber wickelte.
»Das sollte helfen«, sagte sie, und Emily sah ihr in die Augen. Als sie das Eispäckchen nahm, berührten sich ihre Hände, und das reichte aus, um Emilys seelische Erstarrung zu lösen. Die junge Frau blinzelte gegen die Tränen an.
»Würden Sie mit mir beten?«, waren ihre ersten Worte.
Anya warf Mary, die in einem Sessel auf der anderen Seite des Zimmers Platz genommen hatte, einen raschen Blick zu.
Die drei Frauen senkten die Köpfe, und Emily bat um Vergebung für ihr Tun und um die Stärke weiterzuleben. Anya fragte sich, was sie ihrem Peiniger wohl angetan haben mochte.
»Amen«, sagte sie, und die beiden anderen wiederholten das Schlusswort.
»Emily, können Sie uns sagen, was geschehen ist?« Anya stellte sich neben die Jugendliche und versuchte, die steifen Knie durchzudrücken.
Emily umklammerte mit der einen Hand das Eispäckchen, mit der anderen die von Anya und begann ihre Schilderung. »Mum und Dad sind für ein paar Tage weggefahren, zu einem Kirchenlager. Mein kleiner Bruder hat bei einem Freund übernachtet. Ich bin gegen halb zehn von der Bibelstunde heimgekommen.
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