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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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gab der Priester zurück und lächelte. »Aber der Mörder war ein Freund von Ihnen.«
    Ich beobachtete Grant, als der Priester dies sagte. Ich starrte in seine Augen, und deshalb bemerkte ich auch sein Zusammenzucken, obwohl sein Körper vollkommen regungslos blieb.
    »Ich hatte viele Freunde in der Kirche«, antwortete Grant. Ich kannte ihn zu gut, und mein Magen krampfte sich furchtsam zusammen. Das war ein fremdartiges Gefühl und zugleich ein hässliches. Furcht hatte ich empfunden, als meine Mutter noch lebte und auch nach ihrem Tod. Furcht, wenn die Jungs und ich es allein mit der ganzen Welt aufnehmen mussten. Aber das war albern. Meine Mutter war unvorstellbar gewesen, größer als das Leben selbst, ich dagegen war einfach nur schwer zu töten. Selbst diese gefährliche Begegnung mit der Kugel hatte nichts zu bedeuten, jedenfalls nicht auf lange Sicht.
    Dies hier war aber ganz anders. Ich empfand rasch hintereinander Sorge und Entsetzen, und das nicht einmal meinetwegen, sondern wegen Grant. Was es nur noch schlimmer machte. Viel schlimmer, als ich mir hätte vorstellen können, nach all den Jahren, in denen ich allein gelebt hatte.
    »Vater Ross«, sagte der Priester. »Er hat nach Ihnen gefragt.«
    Grant sah auf seine Hand, mit der er den Gehstock noch immer umklammerte. »Wo ist er?«
    »Shanghai.« Vater Cribari wischte sich mit dem Ärmel die Stirn. »Wir konnten ihn nicht zu Ihnen bringen. Es könnte auch noch eine Weile schwierig sein, ihn zu verlegen. Er gehörte zu einer besonderen Mission des Vatikans, die die Beziehungen zu unseren Brüdern und Schwestern in China erforschen
sollte. Aber während seines Aufenthaltes dort ist etwas passiert. Er … Er hat sich verändert.«
    »Er hat gemordet«, sagte Grant leise, ohne den Blick zu heben. »Nur ist das unmöglich. Denn er war ein guter Mensch. Das weiß ich.«
    Ich hatte schon seit einiger Zeit darüber nachgedacht, was in Grants Augen gut hieß. Was es bedeutete, eine freundliche Aura zu haben oder einen liebenswürdigen Geist. Grant behauptete, ich hätte all diese Dinge in mir - was ihn zu dem besten Lügner machte, den ich kannte. Sagte er so etwas jedoch über andere, dann glaubte ich ihm. Wenn dieser Vater Ross ein guter Mann gewesen war, während Grant ihn gekannt hatte, dann stimmte es auch.
    Vater Cribari machte einen Schritt zur Tür. Ich ging nicht zur Seite, nicht einmal, als er mit seinem Rücken fast gegen mich gestoßen wäre. Zee wand sich auf meiner Haut, stürzte sich in seinen Träumen auf den Priester. Ich versuchte diese Empfindung zu ignorieren, versuchte mir nicht vorzustellen, wie es wohl aussehen würde, wenn es Nacht und Zee wach wäre und sich tatsächlich auf den Rücken des Mannes stürzen würde. Vermutlich hätte er dann anstelle seines Rückgrats ein Loch von der Größe einer Frisbee-Scheibe. Meine Jungs waren wirklich geschickt, was Verstümmelungen und dergleichen betraf.
    »Er hat nach Ihnen gefragt, weil er meinte, Sie wüssten, was zu tun ist«, sagte Vater Cribari.
    Grants Blick zuckte hoch. »Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir vor zehn Jahren eine ganz ähnliche Diskussion. Auch dabei ging es um die Dinge, die ich zu tun vermochte. Sie haben gesagt, ich wäre besser tot.«
    »Aber das sind Sie nicht, stimmt’s?« Der Priester trat noch einen Schritt zurück, und diesmal berührte er mich. Ich hatte
die Arme immer noch vor der Brust verschränkt und fühlte die harten Muskeln seines Rückens durch meine Kleidung hindurch. Er war so sehnig wie eine Peitsche. Der Geruch von Hefe und Bienenwachs, der von ihm ausging, war sehr kräftig, und obwohl ich noch nie an die Haare in meiner Nase gedacht hatte, nahm ich jetzt wahr, wie jedes einzelne von ihnen kribbelte.
    Vater Cribari entfernte sich nicht von mir, sondern starrte mir über seine Schulter in die Augen. Er sagte kein einziges Wort. Ich zahlte es ihm mit gleicher Münze heim - und außerdem schwitzte ich nicht. So konnte ich hier eine Ewigkeit stehen bleiben. Zumindest bis zum Sonnenuntergang.
    »Sie wollen, dass ich nach Shanghai fliege«, sagte Grant. »Ist das so?«
    Vater Cribari rührte sich nicht und sah ihn auch nicht an. Er starrte mir nur weiter in die Augen. »Ja. Wir können Ihnen ein Visum durch einen unserer Kontaktleute in der chinesischen Botschaft in Seattle besorgen, aber Sie müssen mit einer normalen Linienmaschine fliegen und als Tourist in das Land einreisen. Wir wollen niemanden auf die Situation aufmerksam machen. Sie muss

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