In Den Armen Des Schicksals
schmalen Schießscharten zu einer misstönenden Kakophonie. Billie nahm eines von den Blättern, die sie mitgebracht hatte, aus der Jackentasche, zusammen mit der Zeichenkohle, faltete es auseinander und hockte sich vor die Inschrift.
Sie zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass das hier die andere Hälfte des MacFarlane-Steins war. Wie er hierhergekommen war, blieb ein Rätsel, genau wie die Frage, aus welchem Grund nie jemand die andere Hälfte zum Schloss gebracht hatte. Wenn Annie MacBean von dem Stein wusste, dann musste es mindestens ein Dutzend anderer geben, die ebenfalls Kenntnis von dem Stein besaßen.
Vielleicht sogar Iain.
Billie strich mit den Fingerspitzen über die Buchstaben. Hatte einer ihrer Vorfahren diese Worte in den Stein geschlagen? Hatte er eine Botschaft in die Zukunft gesandt, damit ein Angehöriger seines Clans sie finden sollte? Ein faszinierender Gedanke, wenn auch ganz sicherlich nicht wissenschaftlich fundiert. Dennoch übte diese Vorstellung einen enormen Reiz auf Billie aus. Und falls das tatsächlich stimmte, wäre es auch die Rechtfertigung für ihr unbefugtes Eindringen als notwendiges Übel.
Der Stein schien ihr seltsam wesenhaft, wie mit Leben oder einer außergewöhnlichen Macht gefüllt. Auch das war keineswegs der Gedanke eines nüchternen Wissenschaftlers. Natürlich wusste sie, dass die Macht nicht etwa von dem Stein stammte, sondern aus ihrer eigenen Fantasie. Dennoch fühlte sie sich magisch angezogen, und ihre Hand war alles andere als ruhig, als sie das Blatt Papier über der Inschrift glatt strich und begann, mit dem Kohlestift darüberzufahren.
„Brauchen Sie jemanden, der Ihnen das Blatt hält?“
Der Stift glitt ihr aus den Fingern, das Blatt flatterte zu Boden. Billie schwang herum und sah Jeremy Fletcher hinter sich stehen. Er lehnte lässig an der Mauer, die Arme über der Brust verschränkt, keine drei Meter von ihr entfernt. Sein Kaschmirmantel wirkte warm wie Sommersonnenschein, doch das schmale Lächeln auf seinen Lippen blitzte kalt wie das Eis am Ufer von Loch Ceo.
Der Wind hatte seine Schritte übertönt, deshalb hatte sie ihn nicht kommen hören. Ein Dutzend Flüche lagen Billie auf der Zunge, als sie sich aufrichtete. „Sie sind also wieder da.“
„Lassen Sie sich von mir nicht stören, Billie. Ich sehe nur eine Weile zu.“
„Sind Sie mir hierher gefolgt?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Hören Sie, Jeremy, ich will keinen Ärger. Warum gehen Sie nicht einfach, und ich vergesse, dass Sie hier unbefugt eingedrungen sind?“
„Sie etwa nicht?“
„Ich habe die Erlaubnis, mich hier aufzuhalten“, log sie. „Wir beide wissen, dass Sie das nicht behaupten können.“
Er blickte sich kurz um. „Scheint niemand hier zu sein, den das interessieren könnte.“
„Warum sind Sie mir gefolgt?“
„Ihnen gefolgt? Ich bin hier, um die Aussicht zu genießen.“
„Dann genießen Sie und gehen Sie wieder, bitte.“
Er rührte sich nicht. Sie wusste, sie hatte nicht die geringste Chance, an ihm vorbei- und die Treppe hinunterzukommen. Selbst mit einem guten Vorsprung würde ihre Angst sie so langsam machen, dass er sie sofort eingeholt hätte.
„Was fasziniert Sie so an diesem Stein?“
„Die lokale Geschichte.“
„Ach ja, richtig, fast hätte ich es vergessen. Und die Geschichte der Ross’ interessiert Sie natürlich am meisten.“
„Ich erinnere mich nicht, das je behauptet zu haben.“
„Möglich. Aber wie mir scheint, haben Sie großes Interesse an Iain Ross. Wünschen Sie sich, die nächste Lady Ross zu werden, Billie?“
„Ich wünsche, dass Sie gehen, damit ich hier weitermachen kann.“
Jeremy zog Handschuhe aus, die perfekt auf das Grau seines Mantels abgestimmt waren, und besah sich angelegentlich die Fingernägel. „Wissen Sie, es gibt wirklich bessere Dinge, die man sich wünschen kann, als eine Ehe mit Iain. Die letzte Lady Ross musste feststellen, dass sie keinen sehr guten Handel abgeschlossen hatte, als sie in die Familie einheiratete. Die Ross’ sind verflucht. Keiner, der heute noch lebt, könnte sich erinnern, dass es je anders gewesen wäre.“
„Danke für die Warnung. Gehen Sie jetzt?“
„Sie wissen schon, dass Wahnsinn in der Familie liegt, oder?“
Billie gab keinen Ton von sich. Sie wollte nicht einen einzigen Gedanken durchblicken lassen. Fest hielt sie den Blick auf Jeremy gerichtet. Ein Gespräch mit Flora fiel ihr ein: Iain war ins Internat geschickt worden, doch in den Ferien kam er
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