Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In den Fängen der Macht

In den Fängen der Macht

Titel: In den Fängen der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
die eng mit ihm zusammengearbeitet hatte.
    »Sieht aus, als ob wir uns nicht schlecht schlagen würden«, meinte er mit einem Anflug von Optimismus.
    »Wir werden sie zurückdrängen! Dann wissen sie, was Krieg bedeutet! Das nächste Mal werden sie es sich gut überlegen, was?«
    Merrit wischte sich das Haar aus der Stirn und steckte es mit ein paar Haarklammern fest.
    »Aber es ist ein hoher Preis, den wir bezahlen, finden Sie nicht?«
    Hester konnte in der Ferne immer noch das Geschützfeuer, die Kanonen und die Gewehrschüsse hören. Sie spürte, wie sich Übelkeit in ihr ausbreitete. Sie wollte fliehen, einen Weg finden, um nicht mehr denken und fühlen zu müssen, und zu wissen, dass sie davon betroffen war. Sie konnte gut verstehen, warum Menschen verrückt wurden. Bisweilen, wenn jeglicher andere Fluchtweg abgeschnitten ist, ist es die einzige Möglichkeit, das Unerträgliche zu überleben. Wenn man sich körperlich nicht entziehen und die Gefühle nicht abgetötet werden konnten, dann widersetzte sich der Geist der Realität.
    Sie ging ein paar Schritte, bevor sie zu sprechen begann. Wenn sie allerdings zu lange wartete, würde sie es vielleicht überhaupt nicht tun.
    »Was sagen Sie?« Der Arzt fuhr zu ihr herum. Er klang ungläubig.
    Sie hörte ihre eigene Antwort; sie klang hohl und gespenstisch, als ob jemand anderes gesprochen hätte.
    »Sie kämpfen immer noch. Hören Sie das Geschützfeuer nicht?«
    »Doch… hört sich an, als wäre es jetzt weiter entfernt … glaube ich«, erwiderte er. »Unsere Jungs schlagen sich tapfer… kaum Verwundete und wenn, dann nur leicht Verletzte.«
    »Nein, es bedeutet, dass die Verwundeten nicht gebracht werden«, korrigierte sie ihn. »Oder dass es zu viele Tote gibt. Der Kampf ist zu heftig, um jemandem die Möglichkeit zu geben, sich zu entfernen und sich um Verletzte zu kümmern.« Sie sah die Ungläubigkeit in seinem Gesicht. »Wir müssen gehen und tun, was in unseren Kräften steht.«
    Es war Angst, was sie in seinen Augen sah, vielleicht nicht davor, selbst verletzt oder gar getötet zu werden, aber vor dem Schmerz anderer Menschen und der eigenen Unfähigkeit, Hilfe zu leisten. Sie wusste genau, wie sich die Angst anfühlte. Sie hatte sich in ihren eigenen Magen gegraben, und sie fühlte sich krank und schwach. Das Einzige, was noch schlimmer sein konnte, war die Hölle, in der man leben würde, wenn man versagte. Das hatte sie bei Männern erlebt, die sich selbst für Feiglinge hielten, ob nun zu Recht oder Unrecht.
    Sie ging zur Tür. »Wir müssen Wasser, Bandagen, Instrumente mitnehmen, alles, was wir tragen können.« Sie versuchte nicht, ihn zu überzeugen. Dies war nicht die Zeit, um viele Worte zu machen. Sie würde gehen. Ob er ihr nun folgte oder nicht.
    Draußen traf sie einen Soldaten, der auf einen blutverschmierten Ambulanzkarren stieg.
    »Wo fahren Sie hin?«
    »Nach Sudley Church«, erwiderte er. »Es liegt ungefähr acht Meilen von hier… näher an der Stelle, an der die Schlacht jetzt tobt.«
    »Warten Sie!«, forderte sie ihn auf. »Wir kommen mit!« Schon rannte sie zurück, um Merrit zu holen. Der Arzt war noch mit dem Versuch beschäftigt, die letzten Verwundeten abtransportieren zu lassen.
    Merrit kam mit ihr, sie trug so viele Feldflaschen, wie sie nur schleppen konnte. Dann kletterten sie auf den Wagen und machten sich auf den Weg nach Sudley.
    Es herrschte eine Hitze wie in einem Backofen. Der pralle Sonnenschein schmerzte in den Augen.
    Staub und Pulverwolken markierten deutlich die Stelle, an der die Schacht am heftigsten tobte. Es war auf einer Anhöhe jenseits des Flusses, dessen Verlauf von den Bäumen, die seine Ufer säumten, gut gekennzeichnet war.
    Sie brauchten über eine Stunde. Hester kletterte mindestens eine Meile vor dem Lazarett vom Wagen, nahm ein halbes Dutzend Feldflaschen mit und machte sich auf den Weg zu den Männern, die immer noch dort lagen, wo sie gefallen waren.
    Sie kam an zerbrochenen Karren und Wagen vorbei, an einigen verletzten Pferden, aber es gab wenig Kavallerie. Im Gras fand sie zertrümmerte Waffen. Eine sah sie, die aussah, als wäre sie explodiert. Einige Schritte weiter lag ihr toter Besitzer, sein Gesicht war schwarz, die Erde um ihn herum dunkel von Blut. Neben ihm lagen weitere Verwundete.
    Verständnislos verfluchte sie die Ignoranz und die Inkompetenz, die junge Männer mit Waffen in den Kampf sandte, die alt und schlecht gemacht waren und beim Gebrauch explodierten. Diese Ironie trieb

Weitere Kostenlose Bücher