In den Fesseln des Wikingers
anzuhören.
„Hilf mir doch, Rodena!“
„Was soll ich denn tun? Glaubst du, mir würde es besser ergehen?“
„Versuche es! Ich sterbe, wenn ich Ubbe wieder verlassen muss. Ich stürze mich vom Wagen in den Fluss hinein.“
„Rede keinen Unsinn, Papia!“, sagte Rodena streng.
„Lieber lasse ich mich mit ihm im Verlies einsperren, als dass ich von ihm fortgehe ...“
„Also gut“, sagte Rodena ärgerlich. „Aber du wirst sehen, dass auch ich nichts ausrichten kann.“
Seufzend erhob sie sich, zog die Decke enger um die Schultern und ging über den Hof zum Turm hinüber. Auf keinen Fall wollte sie Wilhelm Langschwert begegnen, deshalb sprach sie einen der Wächter an und bat, dem Burgvogt ein Anliegen vortragen zu dürfen.
Sie war auf eine rüde Abfuhr gefasst gewesen, doch der Mann glotze sie eine Weile an und fuhr sich dann mit der Hand über den kurz geschorenen Bart. Offensichtlich bewegte sich etwas in seinem Hirn, doch er schien nicht der schnellste Denker zu sein, und es dauerte eine Weile, bis er sich zu einer Entscheidung durchringen konnte.
„Warte hier!“
Er stieg die Leiter hinauf, gönnte ihr den Anblick seiner zu kurzen Beinlinge und der fleckigen Bruche unter dem knielangen Kittel und blieb oben im Turm für eine Weile verschwunden.
Fröstelnd ging Rodena auf und ab, spürte die spöttischen Blicke des Gesindes auf sich gerichtet und ärgerte sich über diesen Dummkopf, der dort oben vermutlich ziellos umherlief und sie inzwischen längst vergessen hatte.
Doch endlich, als sie schon wieder zur Hütte hatte zurücklaufen wollen, hörte sie einen Ruf.
„Steig herauf!“
Das stoppelbärtige Gesicht des Wächters beugte sich von oben herab, seine Hand winkte einladend, und sie begriff, dass sie tatsächlich die Erlaubnis erhalten hatte, dem Burgvogt ihre Bitte vorzutragen.
Eilig stieg sie hinauf, die Leiter war ihr vertraut, denn sie erkletterte sie mehrmals täglich, um die gefangenen Wikinger zu versorgen – stets gefolgt von den beiden Knechten. Dieses Mal jedoch führte sie der Wächter über die enge, hölzerne Stiege in den ersten Stock des Turms hinauf, wo sie vor einer eisenbeschlagenen Tür stehen blieben.
„Geh hinein!“
Sie drückte die schwere Tür auf und blieb scheu am Eingang stehen, denn der Raum erschien ihr unfassbar reich und schön ausgestattet. Das Licht mehrerer großer Lampen ließ die bunten Farben der Wandbehänge leuchten, so dass sie fast glaubte, die gestickten Figuren hätten Leben und bewegten sich auf sie zu. Auf einer langen Tafel standen noch Becher und Krüge, dazu einige Schalen mit Brot und Pasteten, eine breite Lache wies darauf hin, dass jemand roten Wein vergossen hatte. Als hinter ihr die Tür zugeschlagen wurde, fuhr sie erschrocken zusammen und wäre fast gegen eine der breiten Truhen gestoßen, deren gewölbte Decke breite Bänder aus Silber schmückten.
Kaum hatte sie sich wieder gefasst, wurde einer der gestickten Behänge beiseite geschoben, und ein Mann erschien.
Es war nicht der Burgvogt – sie stand vor dem Herzog der Normandie, Wilhelm Langschwert.
Hastig zog sie die Decke ein wenig weiter über den Kopf, doch es war ihr klar, dass sie in der Falle saß, denn es würde ihr nun nicht mehr gelingen, ihr Gesicht vor ihm zu verbergen. Wilhelm hatte nur einen kurzen Blick auf sie geworfen, dann setzte er sich auf einen der Schemel und streckte die Beine unter der Tafel aus.
„Du hast ein Anliegen?“
Scheinbar gleichmütig griff er zum Krug und schenkte einen Becher voll. Dann hob er das Gefäß zum Mund und blickte aufmerksam zu ihr hinüber.
„Nun? Ist es dir vor Schreck entfallen?“
Sie sammelte sich. Weshalb sollte sie sich eigentlich vor ihm fürchten? Sie war sowieso in seiner Hand.
„Es geht nicht um mich, sondern um meine Freundin Papia. Sie ist die Frau eines der Gefangenen und würde sehr gern hier in Falaise bei ihm bleiben.“
Er hörte nicht auf, sie anzustarren, und sie spürte, wie ein leichter Schwindel sie erfassen wollte. Sie sah Kira sehr ähnlich, das musste ihm schon längst aufgefallen sein.
„Die gefangenen Wikinger“, meinte er nachdenklich, so als habe er ihre Bitte überhaupt nicht gehört. „Du hast wahre Wunder gewirkt. Wir alle glaubten, dass sie sterben würden, doch du hast sie geheilt.“
Er belauerte sie mit seinen schmalen, dunkelblauen Augen, denen vermutlich nichts entging. Hatte sie es sich doch gedacht – er hatte ihr diese Aufgabe gegeben, um sie auf die Probe zu
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