In den Fesseln des Wikingers
Er, Wilhelm Langschwert, Herzog der Normandie, war Herr über alle Burgen und Klöster seines Landes – der Abglanz seiner Macht fiel auch auf Rodena, seine Tochter.
Männer sind doch alle gleich, dachte sie lächelnd.
Wilhelm trieb jetzt seinen Wallach an und ritt an die Spitze des Trupps, man bog von der Handelsstraße ab und folgte einem schmalen Tal, durch das sich ein Bachlauf schlängelte. Bald erhoben sich rechts und links der Reiter felsige Hügel, von kahlen Eichen und Buchen bewachsen, die sich mit knorrigen Wurzeln an den Fels anklammerten. Gestrüpp wucherte dazwischen, auf dem Boden sah man zahlreiche Spuren von Wildschweinen, die sich an den Eicheln gütlich getan hatten.
Wilhelm trieb seine Männer jetzt zur Eile, denn die Sonne, die den Reisenden bisher Rücken und Schultern gewärmt hatte, war zwischen grauen Regenwolken verschwunden, und man wollte so bald wie möglich in Evreux ankommen.
Die Reiter kamen gut voran, nur hin und wieder hatten die Wildschweine den Bachrand zerwühlt, so dass man einen Umweg reiten musste. Wilhelm ließ sich nun wieder etwas zurückfallen, er ritt mit Rodena gleichauf und passte den Schritt seines Wallachs ihrer Stute an.
„Sag mir die Wahrheit, Rodena“, forderte er dann, den Oberkörper ein wenig zu ihr hinübergeneigt, damit er leiser sprechen konnte. „Wo ist sie?“
Rodena wusste, von wem er sprach. „Ich weiß es nicht. Seit meiner Geburt lebten wir in einem Quellheiligtum nahe der Stadt Dol im Königreich der Bretagne. Doch als ich vor einigen Wochen dorthin lief, fand ich Kira nicht mehr. Nur das Amulett hatte sie dort für mich zurückgelassen.“
„Kann es sein, dass sie gestorben ist?“
Sie musste die Ohren spitzen, um die Sorge in seinem Tonfall zu hören. Langsam kam sie ihm auf die Schliche, dem Mann mit der stets undurchdringlichen Miene, der seine Gefühle so gut vor aller Welt verbergen konnte.
„Nein, gewiss nicht. Eher wäre es möglich, dass sie geflohen ist. Sie hat alle Dinge mitgenommen, die sie für eine Reise benötigt, aber sie hat mir keinen Hinweis darauf gegeben, wohin sie gegangen ist. Dennoch sagte mir meine Göttin, dass sie lebt und von ihr beschützt wird.“
Er schwieg eine Weile und wog ihre Worte ab. Kein Mienenspiel verriet, was ihn bewegte, doch die Frage, die er nun stellte, bewies Rodena, wie sehr er mit seinen Erinnerungen beschäftigt war.
„Ist ihr Haar grau?“, fragte er leise.
Rodena sah ihn lächelnd von der Seite an. Wie hatte er wohl als junger Mann ausgesehen? War er damals auch schon der harte, stets beherrschte Mensch gewesen? Oder hatte er sich diese Eigenschaften erst zugelegt, als er seinem Vater nachfolgte und Herzog der Normandie wurde?
„Kira hat schwarzes Haar, nur wenige silberne Fäden ziehen sich hindurch. Ihr Gesicht ist jung, besonders wenn sie lacht. Und ihre Augen sind dunkel. In der Nacht spiegelt sich die Mondsichel darin.“
„Ich weiß ...“
In diesem Augenblick vernahm sie einen tiefen, drohenden Laut, ähnlich dem Brüllen eines Bären, ein schwarzer Schatten stürzte vom Fels hinab, und ihre Stute bäumte sich erschrocken auf. Rodena klammerte sich verzweifelt an die Mähne des Tieres, doch sie war zu ungeübt, um sich in dieser schwierigen Lage auf dem Pferd halten zu können. Ehe sie noch begriff, was überhaupt geschehen war, landete sie unsanft auf dem matschigen Boden und wäre um ein Haar in den Bach gerutscht.
Um sie herum wirbelten Pferdebeine, aufgeregte Rufe erschallten, dann übertönte eine laute Männerstimme alle anderen Geräusche.
„Wer näherkommt, ist sein Mörder!“
Sie erbebte bis ins Mark, denn es war Thores Stimme. Auf Wilhelms Pferd saßen zwei Männer, die wütend miteinander rangen. Thore war in kühnem Satz von einem Fels herab auf das Pferd des Herzogs gesprungen, nun saß er hinter Wilhelm auf dem sich wild aufbäumenden Tier, hielt ihn mit dem linken Arm umklammert, während in seiner Rechten ein Dolch blitzte. Wilhelm beugte sich im Sattel vor, versuchte, die Arme unter dem eisernen Griff hervorzuziehen – umsonst. Seine Krieger waren auf die Kämpfenden eingestürmt, doch nach Thores lauter Warnung hatten sie unschlüssig die Reittiere gezügelt, denn der Dolch des Wikingers war auf die Brust des Herzogs gerichtet.
„Ich will nicht dein Leben, Wilhelm“, rief Thore mit weithin schallender Stimme. „Ich will die Druidin.“
Wilhelms Züge waren starr, doch seine Kinnmuskeln zuckten, und Rodena wusste, dass die erneute Niederlage
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