In den Fesseln des Wikingers
erschreckend waren. Die schwarzen Vögel der Morrigan flatterten über einem kahlen Gebirge, sie blickte in eine Höhle hinein und sah dort sich selbst, über einen leblosen Körper gebeugt, hörte sich weinen und Thores Namen rufen, vielfach wiederholte das Echo ihre Stimme, und die Raben krächzten dazu, als wollten sie sie verspotten.
„Rodena!“, rief die kleine Papia ihr ins Ohr. „Oh mein Gott – du bist kalt wie Eis. Du wirst doch nicht sterben? Lass mich nicht allein hier bei diesen Heiden. Bitte, bitte lass mich nicht allein ...“
„Es ist nichts“, flüsterte sie kaum hörbar. „Achte nicht darauf, es geht vorbei.“
„Aber du bist totenblass!“
Schwärze umfing sie, dunkler noch als die Dämmerung, die sie umgab. Graue Steinhäuser wuchsen aus der Dunkelheit, ein breiter, hölzerner Turm, hohe Palisaden aus Holz, eine bunte Menschenmenge umstand einen Platz, der Rauch eines Feuers stieg zum Himmel auf. Zwei Männer in braunen Lederkitteln hielten einen gefesselten Gefangenen, ein glühendes Eisen an einer langen Stange leuchtete rot. Es näherte sich der nackten Brust des Mannes, der zornig und hilflos an seinen Fesseln riss ... War es Thore, der Wikinger? Seine Züge waren verzerrt, unkenntlich, doch es war seine große, kräftige Gestalt.
Plötzlich, wie sie es immer tat, schnitt die Göttin die Flut ihrer Bilder ab, und Rodena fand sich mit leerem Kopf und zitternden Gliedern auf den Schiffsplanken wieder, denn sie war tatsächlich von der Ruderbank gefallen.
„Was ist los!“, knurrte eine heisere Männerstimme.
Der Bewacher hielt eine brennende Fackel über die beiden Frauen, denn das angstvolle Geflüster war ihm unheimlich erschienen.
„Nichts“, gab Rodena heiser zurück. „Ich bin eingeschlafen und von der Bank gefallen.“
Er glotzte sie im Fackelschein an und schien sich daran zu erinnern, dass der Anführer ihm aufgetragen hatte, diese Gefangene ganz besonders gut zu bewachen.
„Hast du Hunger? Oder Durst?“
Sie erschien ihm ziemlich bleich und schwach – nicht, dass er hinterher deswegen Ärger bekam. Thore war ihr Beschützer, wenn sie Schaden nahm, würde ihm möglicherweise ein ähnliches Schicksal wie Erik drohen, den Thore damals mit einem einzigen Schwerthieb in Hels Reich geschickt hatte.
„Ein Stück Brot und etwas Wasser wären nicht schlecht.“
Man hatte sie zwar um die Mittagszeit mit Stockfisch versorgt, aber im Gegensatz zu Papia hatte sie dieses widerliche Zeug nicht heruntergebracht.
Der Wikinger machte sich davon, um in den Vorräten herumzuwühlen, dann kehrte er mit Brot und dem unweigerlichen Stockfisch zurück, dazu brachte er einen Becher Wein.
Heilige Quelljungfer! Aßen diese Kerle wirklich nichts anderes als dieses unappetitliche Zeug, das noch dazu so hart war, dass man damit Nägel in die Ruderbank hätte treiben können?
„Bin ich froh“, seufzte Papia. „Ich hatte schreckliche Angst um dich. Hast du das öfter?“
Rodena knabberte an dem Brot und spülte die Krumen mit Wasser herunter. Wein und Fisch ließ sie unberührt liegen.
„Manchmal“, gestand sie. „Es ist nichts Gefährliches. Ich habe dann schrecklich viele Träume und bin hinterher müde.“
Papia zeigte sich voller Verständnis. Als Kind habe sie einmal krank danieder gelegen und im Fieber eine Menge seltsamer Dinge gesehen.
„Dann kennst du das ja“, sagte Rodena, die sehr erschöpft war und wenig Lust zum Reden hatte.
„Nur dass du keine Hitze, sondern eher Kälte spürst, nicht wahr?“, schwatzte Papia, die sehr erleichtert war, dass Rodena sich wieder normal benahm.
„Genau ...“, murmelte Rodena müde.
„Sind deine Träume auch solch ein verrücktes Zeug? Ich sah meine Mutter, die über die Hecke sprang, und die Nachbarin blies dazu auf der Flöte ...“
„Verrückt?“, sagte Rodena leise vor sich hin. „Ja, das sind sie. Aber auch wahr.“
Papia wusste mit dieser Antwort nichts anzufangen, doch sie bemerkte, dass Rodena wohl sehr müde war, und so kroch sie dicht zu ihr heran und schmiegte sich an ihre Seite, um im Schlaf nicht allein zu sein.
Sie hatten bereits eine Weile geschlafen, als sie von dem Geräusch harter Tritte und dem Schwanken des Schiffes geweckt wurden. Die Wikinger waren von ihrem Beutezug zurückgekehrt, und den Lasten nach zu urteilen, die sie auf ihren Schultern in die Schiffe schleppten, konnten sie mit dem Ergebnis hochzufrieden sein. Im unsteten Schein der Fackeln sah Rodena eine Reihe grinsender Gesichter, dann
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