In den Spiegeln (Teil 1, 2 & 3) - Die dunkle Stadt (German Edition)
Krallen.
Als ich auf die Straße kam, war es Nacht, doch der Horizont hellte sich bereits auf einer Seite auf. Ich blickte mich um und studierte die Fassaden und Schaufenster. Es war augenscheinlich Deutschland. Ich befand mich neben einer Apotheke und vor mir war eine Konditorei. Aber in welcher Stadt?
Ich wanderte die Straße entlang und beobachtete vorbeifahrende Autos. Die meisten trugen ein Kennzeichen, das mit einem alleinstehenden »K« begann. Nach kurzem Überlegen wurde mir klar, dass die größte Stadt in Deutschland, die mit einem »K« anfing, Köln am Rhein war. Ich musste irgendwo am Stadtrand von Köln sein.
Nun wusste ich, wo ich war. Doch mit meinem Körper war ich nicht gerade zufrieden. Ich wollte am liebsten wieder ins Jenseits springen und mit Apythia ein Wörtchen wechseln. Aber das war nicht so einfach.
Bei einem Schaufenster hielt ich an. Es war ein Laden für Spiegel und Bilderrahmen. Nun konnte ich mich gleich zehnfach besehen, und das reichte mir auch wirklich. Ich war eine abgewrackte Figur.
Ein Mann von vielleicht vierzig Jahren, doch es konnten auch fünfzig sein. Ich besaß die augenscheinliche Nase eines Alkoholikers, verdreckte Klamotten und ausgebeulte Taschen. Es war ein Albtraum. Es sollte ein Albtraum sein. Doch nach all dem, was geschehen war, nach dem Sprung von einem Krankenhausdach und meiner Zeit im Jenseits, war diese Erfahrung doch recht gedämpft durch die Gewissheit, dass ich in diese Spiegel sah und nur Bilder betrachtete. Nichts davon war endgültig. Und ich begriff es.
Aber etwas ärgerlich war es ja schon. Ich war ein junger Mann gewesen — und nun war ich ein altes Wrack. Die Reise ins Innere hatte sich für mich ganz schön gelohnt.
Doch ich war nicht wirklich unglücklich. Etwas genervt — ja. Ich hatte das Gefühl, als ob für wahres Unglück in meiner Welt ohnehin kein Platz mehr war.
In meinen ersten Tagen als Landstreicher ereigneten sich zahlreiche merkwürdige Dinge. Doch je gröber und unangenehmer die Zwischenfälle waren, desto mehr trugen sie die Wesenszüge einer tiefen, geradezu bewusstseinserweiternden Erfahrung.
Meinen nächsten Halt machte ich vor einem Zeitungskasten auf dem Gehsteig. Ich überlegte kurz, eine Münze in die Kasse zu werfen, doch dann sah ich mich nur kopfschüttelnd um und klappte kurz den Plastikdeckel hoch.
Mit der Zeitung unter dem Arm humpelte ich eilig davon. Ich stellte mich unter eine Straßenlaterne und starrte entgeistert auf das Datum der Frontseite. Es war der 29. September 2004. In gewisser Weise hatte ich eine Zeitreise gemacht.
Manzio hätte an dieser Stelle vermutlich gesagt, dass jeder Mensch Zeitreisen macht und dass allein das Sein stets eine Zeitreise ist. Aber ich war einfach überwältigt von dieser unmittelbaren Erfahrung.
Es waren die letzten Stunden der Nacht. Die Sonne kündigte sich bereits im Osten an. Ich setzte mich hinter einen Baucontainer, gefüllt mit Schutt und Sperrmüll. Ich wollte das Licht abwarten. Den Tag sehen. Mein langer Mantel wärmte nur bedingt, und ich begriff, dass fast jeder Knochen in meinem Körper wehtat. Gleichzeitig fühlte ich diese Mattigkeit in meinem Kopf. Ich war müde. Aber es war mehr als das. Ich war ausgebrannt. Vom Leben erschöpft. Chronisch krank. Alkoholiker. Suizidgefährdet. Mein Gehirn schien noch deutliche Restspuren dieses Gefühls zu bergen. Fragmente seiner Vergangenheit, die nicht immer so miserabel war. Sie verblassten, während meine eigenen Gedanken und Erfahrungen sie verdrängten. Die Seele des Mannes, der diesen Körper besaß, war nun frei. So wie er es sich gewünscht hatte, mit dem Kopf in einer Schlinge, gemacht aus einem Kabel. Doch ich verstand von diesen Dingen nun genug, um zu wissen, dass die Freiheit des Mannes keine echte war. Seine Seele jagte nun durch den Turm inmitten der Stadt der Spiegel — in Thanatopolis. Sie schlich durch Seitengassen, die an die Kindheit unzähliger vergangener Leben erinnerten, die vermutlich alle mit einem Selbstmord endeten. Wird er es irgendwann schaffen und diesen Kreislauf durchbrechen? Seine Chance wahrnehmen und den Schmerz akzeptieren?
Nun besaß ich eine Menge Hypotheken, die ich von ihm erbte. Vermutlich ein gerechter Preis für die Sekunden seines Schicksal, die ich ihm stahl. Doch ich war nicht darauf vorbereitet, soviel aus der Vergangenheit des Wirts in mich aufzunehmen. Bruchstücke seiner Erinnerungen. Seine Empfindungen. Seine miserable Körperlichkeit. War ich im Stande sie zu
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