In der Falle - Leino, M: In der Falle
dort und hast nachgeschaut?«
»Man muss nicht alles mit eigenen Augen gesehen haben. Ich weiß auch, was nach dem Scheißen hinter mir in der Schüssel liegt, da muss ich nicht extra nachschauen , bevor ich mir den Arsch abwische«, sagte Vater. Dann fummelte er eine neue Zigarette aus der Hosentasche. Er zitterte so sehr, dass er sie kaum anzünden konnte. »Wie kann so ein Klotz so ein Spatzenhirn haben, frag ich mich.«
Macho schwieg, aber Vesa sah, wie seine großen Hände sich zu Fäusten ballten.
Irgendwann würde Vater einen Schritt zu weit gehen. Er hatte eine zu hohe Meinung von sich und eine zu geringe von allen anderen. Plötzlich bekam Vesa eine Gänsehaut, und das kam weder vom offenen Fenster noch vom nervtötenden Quietschen der Scheibenwischer. Die Gänsehaut kam daher, dass es mit Vater immer schlimmer wurde, das wurde ihm jetzt schlagartig klar. Vater war schon immer ein Arschloch gewesen, aber in letzter Zeit war er ein viel zu nervöses Arschloch, und das war gefährlich.
Vesa warf einen schnellen Blick zu seinem Vater hinüber. In dessen Blick lagen Unsicherheit und Angst, da war er sich hundertprozentig sicher. Und genauso sicher war er sich, dass Vater nur nicht klug genug war, um vor Macho die Angst zu haben, die er seiner Meinung nach vor ihm haben sollte. Aber vor irgendetwas anderem hatte Vater Angst, und nicht zu knapp. Vielleicht weil er irgendjemand anderem gegenüber schon zu weit gegangen war.
»Vesa«, sagte Vater, »mach das Handschuhfach auf!«
»Warum?«
»Da liegt eine Pistole für dich drin.«
»Wie? Wozu? Ich will aber keine Waffe.«
»Doch, die willst du ganz bestimmt«, sagte Vater und atmete den eben ausgestoßenen Rauch noch einmal ein. »Sie gibt dir Sicherheit«, sagte er und steckte den Kopf aus dem Fenster, um es noch einmal mit dem Kaugummi aufzunehmen.
Viitasalo und Kivi bliesen warme Luft in die bloßen Hände. Vom Auto aus hatten sie einen direkten Blick auf das Eingangstor des Jugendstilhauses an der Ecke Helsinginkatu/Harjukatu. Der Rasen des kleinen Parks am Harjutori leuchtete noch grün vom Sommer, aber die Bäume hatten größtenteils schon die Blätter fallen lassen, auch der große Ahorn, dessen Äste weit in die Harjukatu hineinragten.
Viitasalo fühlte sich mies. Sari und er hatten sich wieder mal abends gestritten und morgens nicht versöhnen können. Sie waren in letzter Zeit beide nervöser als sonst. Sari hatte nichts gesagt, so wenig wie er, aber wahrscheinlich hatte sie in der Arbeit genauso viel Druck wie er. Alle hatten neuerdings welchen, egal in welchem Beruf. Von den Leuten wurden vorzeigbare Ergebnisse, Opferbereitschaft und Engagement verlangt. Leistungswille , Teamspirit und Zieloptimierung lauteten die Schlagworte, die allen in den Ohren klingelten. Früher hätte es für all das einen gemeinsamen Begriff gegeben: Sklaverei. Der Unterschied zu früher war vor allem, dass man sich heute freiwillig selbst versklavte. Die Massenarbeitslosigkeit der 90er Jahre hatte die Finnen Demut gelehrt, und die Bosse verstanden es, diese für sie so praktische Geisteshaltung zu konservieren. Die Menschen sollten sich der Globalisierung nicht nur stellen, sie sollten sie auch verstehen und den globalen Wettbewerb annehmen , und wenn es ihren Interessen noch so entgegengesetzt war. Was war noch mal vom noch nie da gewesenen Aufschwung beim kleinen Mann angekommen? Wohnungs- und Kreditschulden wie noch nie. Und wie nannte man die Zeit, die man mit der Familie verbrachte? Qualitätszeit . Es klang wie ein Begriff aus dem Fortbildungsseminar und traf die Sache nicht schlecht. So war für jeden offensichtlich, dass das Arbeits- und das Privatleben nach denselben Maßstäben vermessen wurde: Die hinter den Nachbarfenstern hatten doch nicht etwa mehr Qualitätszeit als man selbst?
So war gestern auch der Streit zwischen Viitasalo und Sari entstanden. Sari hatte sich darüber beklagt, dass sie immer weniger zusammen machten. Dabei hatten sie ganz entspannt auf dem Sofa gesessen. Er hatte den Arm um Sari gelegt, ihr Kopf lehnte an seiner Schulter, Liina lag im Bett, und im Fernsehen lief ein Krimi, an dem sogar der strenge Kritiker der Helsingin Sanomat nichts auszusetzen hatte.
Viitasalo war Saris Bemerkung sauer aufgestoßen, Sari hatte dagegengehalten, und irgendwann stand Liina mit Teddy Pontus unterm Arm in der Wohnzimmertür und sagte, sie sollten nicht streiten. Die Kleine heulte, und Viitasalo zog die Laufschuhe an und lief im fahlen Licht
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