In der Falle - Leino, M: In der Falle
der Straßenbeleuchtung vom Westen Pakilas bis nach Paloheinä. Er lief schnell und musste höllisch aufpassen, dass er auf dem glitschigen Blätterteppich, der überall die Gehwege bedeckte, nicht ausrutschte.
Er lief, ohne etwas zu sehen oder zu denken, und erst in Torpparinmäki, in der Mombergintie, kam er so weit zu sich, dass er merkte, wie er in einen stockdunklen Kiesweg einbiegen wollte. Da blieb er stehen und schaute sich um. Das Lichtermeer der Einfamilienhaussiedlung schien sich endlos hinzustrecken. Hinter wie vielen Vorhängen die Leute wohl etwas zusammen machten ? Ist das hier wirklich das, was wir wollen, überlegte er. Ist das Wohlstand? Müssen dafür unsere Kinder schon im Kindergarten in Sondergruppen und spätestens ab der vierten Klasse in Leistungsgruppen eingeteilt werden?
Jetzt, neben Kivi im Auto sitzend, fragte er sich, wie wohl Liinas Zukunft aussehen würde. Neulich hatte er sie aus dem Kindergarten abgeholt, und Jutta, die Betreuerin der Eichhörnchen-Gruppe, hatte ihm berichtet, Liina habe ein anderes Mädchen, Reetta, geschubst und einem der Jungen, Ville, mit der Plastikschaufel auf die Hand geschlagen. Sie wollten Liina jetzt speziell beobachten, Gewalt sei ein ernstes Symptom eines möglichen psychischen Problems. Ob bei ihnen zu Hause etwas passiert sei, auf das Liina vielleicht mit unkontrolliertem Verhalten reagiere, hatte die Betreuerin wissen wollen. Viitasalo hatte ausweichend geantwortet und nur versprochen, Liina darauf anzusprechen. Er hatte es allerdings nicht getan, er hatte das Mädchen nicht unnötig quälen wollen. Außerdem fand er es normal, dass Kinder manchmal stritten und einander schubsten. Das taten die Erwachsenen schließlich genauso. Wenn er ehrlich war, hatte er sich selbst auch nicht quälen wollen, er war einfach zu müde für so was. Verglichen mit seinen wirklichen Problemen, war die Kindergartensache ein Klacks.
Ob Liina gestern Abend noch lange geweint hatte? War er ein schlechter Vater, weil er geflüchtet war?
Während er auf das Tor der Jugendstilvilla starrte, fiel Viitasalo ein Artikel ein, den er gelesen hatte und in dem es hieß, dass Eltern ihre eigenen Ambitionen unbewusst auf die Kinder übertrugen. Das Phänomen war angeblich ein globales. In dem Artikel war von privaten Englischkursen für Babys die Rede und Chinesischkursen für Zweijährige, für Vierjährige gab es dann schon Laboratorien, in denen sie in Physik, Chemie und Biologie unterrichtet wurden – alles spielerisch natürlich. Und in Wirklichkeit ging es doch nur darum, die Kinder auf ihre künftigen Karrieren vorzubereiten. Das Schlimmste war, dass Viitasalo beim Lesen unwillkürlich darüber nachgedacht hatte, ob sie Liina nicht auch in irgendeinen nützlichen Kurs stecken sollten. Wenn man nur so sicher sein konnte, dass sie hinter den anderen nicht zurückblieb …
Er war ein schlechter Vater. Und er war ein schlechter Ehemann. Und dennoch waren das nicht seine größten Sünden. Da war noch etwas anderes, ein Fehltritt vor ein paar Jahren. Aber er hatte es nur für seine Familie getan, für Sari und Liina, nicht für sich. Oder doch? Dass er das nicht sicher sagen konnte, vergrößerte noch Viitasalos Frust.
»So früh bräuchten wir uns den Arsch nicht abzufrieren«, moserte Kivi. »Nach Koivistos Bericht ist der Typ eine wandelnde Zeitansage.«
Viitasalo sagte nichts, weil es dazu nichts zu sagen gab. Er spürte ein hässliches Ziehen an den Schläfen und einen ganz ähnlichen Schmerz an der Rückseite der Oberschenkel. Nur die Ursachen waren verschieden.
»In exakt zwei Minuten kommt er aus dem Tor. – Hast du gehört?«
»Ja«, antwortete Viitasalo.
Kivi hatte recht. Nach exakt zwei Minuten ging das Tor auf, und auf die Straße trat ein Brillenträger mit einer auffallend schlechten Haltung: Reino Sundström. Sundström war 56, sah aber älter aus.
»Da ist er«, brummte Kivi. »Er geht zum Kiosk in der Vaasankatu, kauft beide Nachmittagszeitungen und trinkt zwei Tassen Kaffee. Ganz schön langweiliges Leben.«
Sundström schaute kurz in den Himmel, schlug den Kragen seines Mantels hoch und ging staksig die steil ansteigende Harjukatu in Richtung Vaasankatu hinauf. Der staksige und etwas unsichere Gang ließ Sundström zerstreut und harmlos wirken.
»Schau ihn dir an! Bist du dir deiner Sache wirklich sicher?«, fragte Kivi.
Viitasalo ließ den sich entfernenden Sundström nicht aus den Augen, aber er spürte, dass Kivi ihn von der Seite ansah.
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