In der Falle - Leino, M: In der Falle
wissen.«
An Mutters Kopf vorbei sah Vesa die tote Birke, auf deren unschöner Bruchstelle sich schon ein Hut aus Schnee bildete. Warum hatten sie den Baum immer noch nicht gefällt? Die Spur, die der Schneepflug hinterlassen hatte, sah aus, als hätte ein prähistorisches Riesenraubtier ein Stück vom Stamm herausgebissen.
»Wir wissen doch überhaupt nichts. Ich wenigstens. Und du sagst mir nichts.«
»Mutter, hör zu«, sagte Vesa und griff nach der Hand, die immer noch die Tischdecke befingerte. »Ich bezahl ihnen die Schulden, dann ist alles wieder gut.«
Mutter sah ihn wieder an. In ihren Augen schimmerte ein Verdacht.
»Wie viel ist es?«
»Zwanzigtausend«, antwortete Vesa.
»So viel? Was hat Arto mit so viel Geld gemacht? Wir haben doch nichts.«
»Er hatte es noch gar nicht bekommen«, sagte Vesa. »Die haben nur ausgerechnet, wie viel sie wegen ihm verloren haben, weil er an ihrer Buchhaltung vorbei eigene Arbeitskräfte geholt hat.«
»Buchhaltung? Die Gauner haben …«
Mutter zog die Hand zurück und legte sie in den Schoß.
»Und was machst du jetzt?«
»Arbeiten«, sagte Vesa. »Ich muss die zwanzigtausend abarbeiten.«
»Auf irgendeiner Baustelle, oder was?«
»Eher nicht«, antwortete Vesa schnell. Fast zu schnell. Nie mehr würde er eine Baustelle betreten, das hatte er sich letzte Nacht geschworen.
»Wo dann?«
»Ich weiß es noch nicht«, sagte Vesa. »Aber wohl kaum auf der Baustelle.«
»Was sind das für Männer?«
Vesa antwortete nicht.
»Wie schlecht sind die?«
»Ziemlich.«
»Warum hat er dich bloß in so eine Scheißsituation gebracht? Seinen eigenen Sohn?«
Vesa öffnete den Mund und sagte dann doch nichts. Vater war andauernd in Scheißsituationen geraten, und er hatte andere andauernd in Scheißsituationen gebracht. Was hatte Mutter denn von ihm gehabt? Nichts als Kummer. Darum trank sie wahrscheinlich auch. Als Vesa klein war und die Birke im Hof noch ein gesunder Baum mit einem Wipfel voll üppigem Laub, hatte Mutter keinen Tropfen angerührt. Trank sie, damit sie ihr Leben aushielt oder um die Träume zu vergessen, die sie bestimmt auch mal gehabt hatte?
»Was überlegst du?«
»Nichts.«
Mutter sah Vesa so vorwurfsvoll an, als hätte sie gerade seine Gedanken lesen können. Dann nahm sie einen letzten Zug von ihrer Zigarette und drückte sie lange und sorgfältig im Aschenbecher aus.
»Vesa?«
»Ja?«
»Er kommt doch bestimmt wieder zurück?«
»Ja«, sagte Vesa.
Mutter seufzte und nickte. Vesa sah, dass sie ihm nicht glaubte, aber glauben wollte. Mutter war nicht besonders gescheit und wusste das auch selbst, aber sie spürte, dass es nicht so gewesen sein konnte, wie er behauptete. Trotzdem wollte sie es glauben – wie Vesa selbst, obwohl er die Wahrheit kannte.
»Gut«, sagte Mutter. »Dann lass uns versuchen, so weiterzumachen wie bisher.«
Sie stand auf und ging ins Badezimmer. Vesa blieb allein vor seinem kalt gewordenen Kaffee sitzen. Er schloss die Augen und wischte die aufkommenden Tränen schnell mit dem Ärmel trocken. Er musste etwas tun, was die Lüge glaubwürdiger erscheinen ließ. Er würde es nicht schaffen, Mutter monatelang irgendwelche erfundenen Geschichten zu erzählen. Die Lüge musste so glaubwürdig erscheinen, dass Mutter die Fragen ausgingen. Er musste die Geschichte genau an der Stelle wasserdichter machen, wo sie am meisten leckte. Er musste Vater nachweislich leben lassen.
Irgendwann einmal hätte Mutter natürlich das Recht zu erfahren, dass Vater tot war, schon weil sie das Recht hatte zu trauern. Die ganze Wahrheit würde er ihr allerdings nie erzählen können. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie nicht gefragt hatte, wie Vater eigentlich erfahren sollte, dass alles wieder in Ordnung war, wenn es mit ihm keinerlei Kontakt mehr geben durfte. Seine Geschichte war noch alles andere als wasserdicht.
Vesa stand auf und ging leise zur Badezimmertür. Mutter ließ Wasser ins Waschbecken laufen. Hinter dem Wasserrauschen und den Gurgelgeräuschen des Abflusses hörte er ihr Schluchzen.
Vesa ging weiter in sein Zimmer, machte die Tür zu und setzte sich aufs Bett. Mutter hatte Zweifel.
»Erst müssen die Schulden weg«, flüsterte Vesa. »Dann ist Zeit, über andere Dinge nachzudenken.«
Er nahm das Handy, das er von Turunen bekommen hatte. Er sollte es immer bei sich haben und sofort antworten, wenn es klingelte, sonst sei ihr Abkommen auf der Stelle beendet, hatte Turunen ihm eingeschärft. Und mit dem Ende des Abkommens
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