In der Falle - Leino, M: In der Falle
geschwiegen. Sie waren zusammen hingefahren, hatten sich vor dem Terminal D in Tallinn getrennt, und Vesa war mit dem Taxi nach Kopli gefahren. Er hatte die Ladung bei Kalju abgeholt und war in den Hafen zurückgekommen, wo Irma in der Nähe des SuperAlko auf ihn gewartet hatte. Sie hatten auch da nicht viele Worte miteinander gewechselt. Vesa hatte den leeren Trolley genommen und fünf Tragen Koff und für sich selbst sechs Dosen Saku Gold gekauft. Danach waren sie gemeinsam zum Terminal gegangen: Er hatte den vollen Trolley gezogen, und Irma hatte sich bei ihm eingehängt und war in kurzen flachen Schritten neben ihm hergetippelt. Im Terminal schlugen sie dann die Zeit tot, indem sie den Fähren beim Ein- und Auslaufen zuschauten. Sie kauften immer Fahrkarten für die Fähre um 17.30 Uhr. Das war eine Regel, von der es keine Ausnahme geben durfte.
Heute war Vesa allerdings nicht in Kopli gewesen. Macho hatte ihm am Morgen mitgeteilt, dass sich der Treffpunkt geändert habe. Den Grund verriet ihm Macho nicht, was Vesas Nervosität noch vergrößert hatte. Kaljus Wohnung in der heruntergekommenen Mietskaserne war ihm nach drei Touren zu einem halbwegs vertrauten Ort geworden, und Vertrautheit bedeutete für ihn Sicherheit, ob das nun logisch war oder nicht.
Die heutige Ladung hatte er in Lasnamäe abgeholt, am genau entgegengesetzten Ende der Stadt. Das Haus dort war ansehnlicher gewesen als das, in dem Kalju wohnte, aber die Wohnung, in der sie sich trafen, war der reinste Schweinestall.
»Hier wohnt niemand«, hatte ihm Kalju erklärt. »Juri und seine Freundin haben hier gewohnt, aber Juri hat die Alte erschossen und sich gleich mit. Juri hat zu viel selbst konsumiert. Das ist nicht gut fürs Geschäft und fürs Leben gleich gar nicht. Man darf nie die Kontrolle verlieren.«
»Hast du ihn gekannt?«, hatte Vesa gefragt.
»Ja, hab ich. Er war mein kleiner Bruder«, hatte Kalju geantwortet und die Saku-Gold -Dosen aus seiner Tasche geräumt. »Darum fühl ich mich hier auch nicht wohl.«
»Und warum haben wir uns dann hier getroffen und nicht in Kopli?«
»Weißt du, sicher ist sicher«, hatte Kalju gesagt, und Vesa hatte nicht weiter gefragt, weil der sonst so auskunftsfreudige Kalju plötzlich ungewohnt düster aussah.
»Du siehst aus, als hättest du nicht viel geschlafen«, sagte Irma, während sie das Foto ihres Hundes in die Handtasche zurücksteckte.
»Hab ich auch nicht«, sagte Vesa. »Ich schlaf seit ein paar Monaten nicht mehr so gut.«
»Du musst dich damit abfinden«, sagte Irma. »Sich abfinden hilft.«
»Abfinden mit was?«, fragte Vesa.
»Mit dem Alles-und-nichts, worüber du nachdenkst«, sagte Irma. »Das Leben ist, wie es ist. Wir treiben in dem großen Strom nur mit, und es ist in den meisten Fällen besser, das zu akzeptieren. Es ist besser nachzugeben, als mit dem Kopf immer gegen dieselbe Wand zu laufen. Man lernt das, wenn man älter wird. Irgendwann begreift man, dass die Wand härter ist als der Kopf.«
»Ich fürchte, ich hab’s jetzt schon lernen müssen.«
»Quatsch«, sagte Irma. »Das glaubst du nur, aber denk an meine Worte!«
Über Irmas faltiges Gesicht huschte ein Lächeln. Auch sie war einmal ein junges Mädchen gewesen, das die ganze Welt umarmen und erobern wollte. Und da saß sie jetzt, 77 Jahre alt, und schmuggelte Amphetamine von Estland nach Finnland. Irma war zufällig zu einem Teil der Welt geworden, die Vesa möglichst schnell hinter sich lassen wollte. Während der ersten Fahrt nach Estland war er an Deck gegangen, hatte das Gesicht in den salzigen Wind gehalten und für kurze Zeit überlegt, ob er springen sollte.
»Darf ich dich was fragen?«, fragte Vesa.
»Nur zu«, sagte Irma.
»Warum machst du das hier?«
»Wegen dem Geld, wie du.«
»Und was zahlen die dir?«, fragte Vesa.
»Hundert Euro«, antwortete Irma. »Und für das Bier krieg ich noch mal hundert. Ich trink’s nicht selbst, falls du das gedacht hast. Ich verkauf’s meinen Nachbarn. Bei uns in Vallila wimmelt es von Schluckspechten, für die ein paar Cent weniger viel Geld sind.«
Vesa war entsetzt. »Nur hundert Euro?«
»Ich hab einen gelähmten vierundfünfzigjährigen Jungen zu Hause, den ich pflege. Markku kann sich seit dreizehn Jahren nicht mehr ohne Hilfe bewegen. Erst haben die Sozialkasse und die Versicherung gezahlt, aber dann hat die Versicherung aufgehört zu zahlen, weil Markkus Pflege nicht mehr der Rehabilitation, sondern nur der Lebenserhaltung dient, wie sie sich
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