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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Bostoner Beamte und State Police, pensionierte und aktive – kamen von überall her, sogar aus Delaware und Bangor, Maine. Alle Dienstgrade, alle Dezernate waren vertreten. Auf dem Foto über dem Artikel schlängelte sich der Neponset River am anderen Ende des Friedhofs entlang, doch war er kaum zu sehen, da es vor Uniformen nur so wimmelte.
    Geballte Macht, dachte er. Was für ein Vermächtnis .
    Und beinahe im selben Augenblick kam ihm noch ein Nachgedanke: Na und?
    An die tausend Menschen waren auf den Friedhof am Ufer des Neponset River geströmt, um seinem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Und eines Tages würden womöglich Anwärter für den höheren Vollzugsdienst im Thomas-X.-Coughlin-Gebäude an der Bostoner Polizeiakademie studieren oder morgens über die Coughlin Bridge zur Arbeit fahren.
    Eine schöne Vorstellung.
    Und trotzdem war Dad tot. Er war nicht mehr da und würde auch nicht zurückkommen. Kein Gebäude, keine Brücke, kein wie auch immer geartetes Vermächtnis vermochte etwas daran zu ändern.
    Man bekam nur ein Leben geschenkt. Es ging darum, das Beste daraus zu machen.
    Er legte die Zeitung neben seine Pritsche. Die Matratze war neu und hatte am Tag zuvor in seiner Zelle auf ihn gewartet, als er von der Arbeit gekommen war – ebenso wie ein kleiner Beistelltisch, ein Stuhl und eine Kerosinlampe. In der Schublade des Tisches lagen Streichhölzer und ein brandneuer Kamm.
    Er blies die Lampe aus und rauchte im Dunkeln weiter. Er lauschte den Geräuschen aus den Fabriken und dem Tuten der Frachtkähne auf dem Fluss. Er öffnete die Uhr seines Vaters, klappte sie wieder zu und öffnete sie abermals. Immer wieder klappte er sie auf und zu, während der Chemiegestank durch das Zellenfenster drang.
    Sein Vater war tot. Und er kein Sohn mehr.
    Er war ein Mann. Ohne Geschichte, ohne Erwartungen. Ein unbeschriebenes Blatt, niemandem verpflichtet.
    Er fühlte sich wie ein Pilger, der von den Gestaden einer Heimat abgelegt hatte, die er nie wiedersehen würde, und nach einer langen Reise unter schwarzem Himmel in einer neuen, unberührten Welt gelandet war, die wartete, als ob sie schon immer gewartet hätte.
    Auf ihn.
    Darauf, dass er ihr einen Namen gab, sie nach seinen Vorstellungen formte, auf dass sie sich seine Werte zu eigen machte und über alle Grenzen verbreitete.
    Er klappte die Uhr ein letztes Mal zu, legte die Finger fest darum und schloss die Augen, bis er das Ufer seiner neuen Welt vor sich sah und der schwarze Himmel sich in ein von weißen Sternen übersätes Firmament verwandelte, die hell auf ihn und die letzten Meter zwischen ihm und dem neuen Ufer herabschienen.
    Als sein Vater gestorben war, hatte er Joes Vergangenheit mit sich genommen.
    Du wirst mir fehlen. Ich werde um dich weinen. Aber jetzt bin ich ein neuer Mensch. Und wahrhaft frei.
    Zwei Tage nach der Beerdigung besuchte Danny ihn ein letztes Mal.
    Er blickte Joe durch das Drahtgeflecht an. »Wie geht’s dir, kleiner Bruder?«
    »Ich beiße mich durch, so gut es geht«, sagte Joe. »Und dir?«
    »Weißt du doch«, sagte Danny.
    »Von wegen«, erwiderte Joe. »Ich weiß nichts, absolut gar nichts über dich. Du bist vor acht Jahren mit Nora und Luther nach Tulsa verschwunden, und seither habe ich nur noch Gerüchte gehört.«
    Danny nickte. Er kramte nach seinen Zigaretten, steckte sich eine an und überlegte ein paar lange Momente. »Luther und ich haben uns da unten als Unternehmer versucht. Häuser im Schwarzenviertel gebaut. Lief ganz gut, nicht großartig, aber okay. Zwischendurch war ich sogar mal Stellvertreter des Sheriffs – unglaublich, was?«
    Joe grinste. »Mit Cowboyhut?«
    »Und zwei Colts, Kleiner«, sagte Danny mit Südstaaten-Akzent. »Keiner zog schneller.«
    Joe lachte. »Totengräberfliege?«
    Danny lachte ebenfalls. »Und ob. Die Stiefel nicht zu vergessen.«
    »Sporen?«
    Danny verengte die Augen und schüttelte den Kopf. »Es gibt Grenzen.«
    »Und was ist passiert?«, fragte Joe, immer noch ein Lächeln auf den Lippen. »Es gab einen Aufstand oder so, stimmt’s?«
    Das Licht in Dannys Augen erlosch von einem Moment auf den anderen. »Sie haben alles niedergebrannt.«
    »Tulsa?«
    »Das schwarze Tulsa – Greenwood, das Viertel, in dem auch Luther wohnte. Eines Abends tauchten ein paar Weiße vor dem Gefängnis auf, um einen Farbigen zu lynchen, der einem Mädchen angeblich in einem Fahrstuhl zwischen die Beine gegriffen hatte. Dabei hatte sie in Wahrheit monatelang eine Affäre mit dem Jungen

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