In der Nacht (German Edition)
Handlanger her, als sei soeben die Jagdsaison eröffnet worden. Innerhalb eines Monats hatte Maso seinen Konkurrenten aus Boston vertrieben, und Whites paar verbliebene Leute machten ebenfalls, dass sie wegkamen.
Im Gefängnis ging es plötzlich zu, als wäre das Wasser mit einer satten Dosis Harmonie angereichert worden. Es gab keine Messerstechereien mehr. Für den Rest des Jahres 1928 machte keiner mehr den Abgang übers Geländer im obersten Stockwerk, und auch in der Schlange vor der Essensausgabe wurde niemand mehr abgestochen. Und als es Joe gelang, einen Deal mit Albert Whites zwei besten Schwarzbrennern einzufädeln, wusste er, dass wirklich Frieden im Zuchthaus von Charlestown eingekehrt war. Bald darauf schmuggelten Wärter den Gin nach draußen ; das Zeug war so gut, dass es auf der Straße unter einem eigenen Namen gehandelt wurde – Penal Code.
Zum ersten Mal, seit er im Sommer ’27 durch das Gefängnistor marschiert war, schlief Joe tief und fest. Nun fand er auch endlich Zeit, seinen Vater und Emma zu betrauern, was er sich bislang nicht erlaubt hatte, um sich nicht ablenken zu lassen, während andere ihre Ränke gegen ihn schmiedeten.
Der grausamste Streich, den Gott ihm in der zweiten Hälfte des Jahres 1928 spielte, bestand darin, dass er ihm Emma sandte. Im Schlaf spürte er, wie sie ihm das Bein zwischen die Schenkel schob, roch er den dezenten Duft ihres Parfums; er sah ihr in die Augen, spürte ihren Atem auf seinen Lippen und hob die Arme von der Pritsche, um seine Hände über ihren nackten Rücken gleiten zu lassen. Und im selben Moment schlug er tatsächlich die Augen auf.
Doch da war niemand.
Nur die Dunkelheit.
Und er betete. Er betete zu Gott, sie möge noch am Leben sein, selbst wenn er sie niemals wiedersehen würde. Bitte mach, dass sie noch lebt.
Aber bitte, lieber Gott, lass sie nicht mehr in meinen Träumen erscheinen. Ich ertrage es nicht, sie immer wieder zu verlieren. Ich halte das nicht länger aus. O Gott, flehte Joe, habe Gnade mit mir.
Doch Gott hatte keine Gnade mit ihm.
Die Heimsuchungen nahmen bis zu seinem letzten Tag im Charlestown State Prison kein Ende.
Sein Vater tauchte nie in seinen Träumen auf, und doch war er Joe näher als zu seinen Lebzeiten. Manchmal saß Joe auf seiner Pritsche, klappte immer wieder den Uhrendeckel auf und zu und stellte sich vor, welche Gespräche er und sein Vater wohl geführt hätten, wären da nicht all die alten Sünden, all die verkümmerten Erwartungen gewesen.
Erzähl mir von Mom.
Was willst du denn wissen?
Was war sie für ein Mensch?
Sie hatte Angst. Große Angst, Joseph.
Wovor?
Vor all den Dingen da draußen.
Was meinst du damit?
Vor allem, was sie nicht verstand.
Hat sie mich geliebt?
Auf ihre Weise schon.
Das ist keine Liebe.
Für sie aber doch. Du darfst nicht denken, sie hätte dich verlassen.
Was denn sonst?
Dass sie wegen dir weiter ausgehalten hat. Sonst wäre sie schon viel früher von uns gegangen.
Sie fehlt mir nicht.
Komisch. Mir schon.
Joe blickte ins Dunkel. Du fehlst mir.
Ach was. Wir sehen uns noch früh genug.
Nachdem Joe sowohl die Produktionsabläufe in der Knastdestille als auch den Schmuggel perfektioniert hatte, blieb ihm reichlich Zeit zum Lesen. Er las so ziemlich alles, was die Gefängnisbibliothek zu bieten hatte – eine Herkulesaufgabe, die sich einem gewissen Lancelot Hudson III. verdankte.
Lancelot Hudson III . war der einzige reiche Bürger Bostons, der je in Charlestown eingesessen hatte. Doch sein Verbrechen war derart ungeheuerlich gewesen und noch dazu in aller Öffentlichkeit geschehen – er hatte seine untreue Frau Catherine anno 1919 vom Dach ihres dreistöckigen Hauses in der Beacon Street geworfen, mitten hinein in die Parade am Unabhängigkeitstag, die sich gerade den Beacon Hill hinunterbewegte –, dass selbst seinen ebenso betuchten Freunden die kostbaren Teetassen aus der Hand gefallen waren, ehe sie postwendend beschlossen hatten, ihren Standesgenossen den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen. Lancelot Hudson III. wurde wegen Totschlags zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch wenn er dort keine Steine klopfen musste, war der Knastalltag brutal genug, und nur seine Bücher boten ihm zwischenzeitlich ein wenig Zuflucht; er hatte sie mitbringen dürfen unter der Bedingung, dass sie nach seiner Entlassung in der Gefängnisbibliothek verbleiben würden. Joe las mindestens hundert Bücher aus der Hudson-Sammlung. Sie waren daran zu erkennen, dass auf jeder
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