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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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hinauf.
    Einen Augenblick lang herrschte atemloses Schweigen.
    Dann sagte Dion: »Ich glaube, ich habe mir grad in die Hose gemacht.«
    »Er hat’s geschafft«, sagte Graciela.
    »Das war nur der erste Schritt«, sagte Joe. »Jetzt muss er noch den Job erledigen.« Er warf einen Blick auf die Uhr seines Vaters: Punkt drei.
    Er sah zu Dion, der seine Gedanken erraten hatte. »Ich schätze, drüben müsste jetzt die Hölle los sein.«
    Sie warteten. Das Metallgeländer des Stegs war immer noch warm von der Augustsonne, die den ganzen Tag über auf Tampa niedergebrannt hatte.
    Fünf Minuten später ging einer der beiden Uniformierten an Deck, wo ein Telefon klingelte. Kurz darauf kam er die Planke wieder heruntergeeilt und lief mit seinem Kollegen zu einem Patrouillenwagen. Am Ende der Pier bogen sie links ab, fuhren weiter nach Ybor, zu jenem Club in der Seventeenth Street, in dem zehn von Dions Jungs gerade die anwesenden Matrosen aufmischten.
    »Gib’s zu«, sagte Dion. »Bis jetzt…«
    »Was?«
    »…läuft alles wie am Schnürchen.«
    »Bis jetzt«, sagte Joe.
    Graciela nahm einen Zug von ihrer Zigarre.
    Im selben Augenblick drang ein erstaunlich dumpfer Knall an ihre Ohren. Eigentlich klang er nach gar nichts, doch der Steg geriet kurz ins Wanken, und sie alle breiteten die Arme aus, als stünden sie zusammen auf der Lenkstange desselben Fahrrads. Die USS Mercy erbebte. Das Wasser kräuselte sich, und kleine Wellen schlugen gegen die Pier. Und dann quoll dichter grauer Rauch aus einem klaffenden Loch im Rumpf, durch das mühelos ein Konzertflügel gepasst hätte.
    Der Rauch ballte sich zusammen, wurde immer dicker und dunkler, doch dann sah Joe im Zentrum des Qualms einen Feuerball, der pulsierte wie ein schlagendes Herz. Rote Flammen vermischten sich mit der gelben Glut; kurz darauf verschwand alles wieder hinter den Rauchwolken, die nun schwarz wie frischer Teer waren. Der Qualm trieb über das Wasser, verdunkelte den Himmel und die jenseits des Hafenbeckens liegende Stadt.
    Dion lachte, und als Joe zu ihm hinüberblickte, lachte er noch lauter, schüttelte den Kopf und nickte schließlich Joe zu.
    Joe wusste, was das Nicken bedeutete – genau deshalb waren sie Gesetzlose. Um Dinge zu erleben, die den Versicherungsvertretern, den Lastwagenfahrern und Anwälten und Kassierern und Schreinern und Immobilienmaklern dieser Welt nie vergönnt sein würden. Drahtseilakte ohne Netz und doppelten Boden. Genau in diesem Moment erinnerte sich Joe daran, was ihm damals als Dreizehnjährigem durch den Kopf geschossen war, als sie den Zeitungskiosk in der Bowdoin Street ausgeraubt hatten: Wahrscheinlich werden wir jung sterben.
    Doch wie viele Männer konnten, wenn sie dereinst das nächtliche Land ihrer letzten Stunde betraten und über dunkle Felder auf die Nebelbänke der Ewigkeit zustrebten, einen letzten Blick über die Schulter werfen und sagen: Ich habe mal einen Zehntausend-Tonnen-Marinefrachter in die Luft gejagt?
    Joe sah Dion abermals an und lachte ebenfalls.
    »Er war wohl nicht schnell genug.« Plötzlich stand Graciela neben ihm, den Blick auf das Schiff gerichtet, das nun fast vollständig von Rauch eingehüllt war.
    Joe schwieg.
    »Manny«, fügte sie unnötigerweise hinzu.
    Joe nickte.
    »Glauben Sie, er ist tot?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Joe, doch bei sich dachte er: Ich willʼs hoffen.

15
    Die Augen seiner Tochter
    Im Morgengrauen luden die Matrosen die Waffen aus und stapelten sie auf der Pier. Die Kisten glitzerten vom Tau, der in der aufgehenden Sonne langsam verdampfte. Verschiedene kleinere Schiffe legten an; weitere Matrosen und Offiziere gingen an Land und nahmen das Loch im Rumpf der USS Mercy in Augenschein. Joe, Esteban und Dion mischten sich unter die Schaulustigen hinter den Polizeiabsperrungen und hörten, dass das Schiff auf dem Boden des Hafenbeckens aufgesetzt hatte und es fraglich war, ob der Schaden behoben werden könne. Um diese Frage zu beantworten, war dem Hörensagen nach ein Lastkahn mit Kran aus Jacksonville unterwegs. Die Waffenladung sollte ein anderer Frachter übernehmen; bis er eingetroffen war, mussten die Waffen irgendwo zwischengelagert werden.
    Joe verließ die Pier. Graciela wartete in einem Café in der Ninth Avenue auf ihn. Sie saßen draußen unter einem steinernen Säulengang und beobachteten eine Straßenbahn, die sich ratternd über die Schienen in der Straßenmitte näherte und gegenüber dem Café zum Halten kam. Ein paar Fahrgäste stiegen aus, ein

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