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In der Stille der Nacht - Thriller

In der Stille der Nacht - Thriller

Titel: In der Stille der Nacht - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denise Mina
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stand im hohen Gras, das Meer hinter sich und er sah zurück über das Marschland, durch das er gewatet war.
    In der Dunkelheit war das Wasser schwarz und unbeweglich, ein spiegelglatter Boden, der eine Unterwelt bedeckte. Aamir hatte keine Erinnerung an den Weg. Seine Kleider waren nass und froren an ihm fest, seine Haut spannte, seine Muskeln zuckten, doch er sah zurück auf die Schwärze und alles, woran er sich erinnern konnte, war der Verlust von Wärme. Sie war dort drin, verloren.
    Er hatte eine Ewigkeit in der Metallröhre gekauert, auf die Helligkeit in der Tür gestarrt und gewusst, dass der Junge dort lag und dann auch wieder nicht. Er hatte zu sehen geglaubt, wie der Trainingsanzug mit dem roten staubigen Boden verschmolz. Plötzlich blies ihm Wind ins Gesicht, Vögel flogen über ihn hinweg und seine Füße wurden feucht, kalt, seine Schienbeine, seine Knie, seine Genitalien. Die Knie zu heben und weiterzugehen, wurde zu einem übermenschlichen Kraftakt, aber er tat es, er hielt die ganze Zeit ihre Hand, zog sie hinter sich her wie eine Puppe, wie eine schwere, tote Puppe.
    Irgendwo da draußen im schwarzen Gewässer, irgendwann war ihm die Hand seiner Mutter entglitten und sie
hatte seine Körperwärme mitgenommen. Sie war im Wasser, aber er hatte nicht den Mut, noch einmal zurückzugehen und sie zu suchen.
    Die Sandbank, auf der er stand, gab langsam unter seinem nackten Fuß nach und er trat zurück. Er sah hinunter. Er trug einen Pantoffel. Nur einen. Er hatte sich mit Wasser vollgesogen und deshalb war sein Fuß so kalt. Um der beißenden Kälte an seinem Fuß zu begegnen, streifte er den Pantoffel ab und blieb barfuß in der Dunkelheit stehen, sah zu, wie der feuchte dunkle Sand zwischen seinen Zehen hervorquoll.
    Um ihn herum wurde es hell. Ein Vogel erhob sich in dreißig Metern Entfernung vom Boden. Aamir sah ihm nach und entdeckte ein Licht, eine Glühbirne, die hypnotisierend in der Dunkelheit hin und her schwang. Er hob sein rechtes Knie, machte einen Schritt und dann noch einen.

    Eddy sah die Sonne über dem Marschland aufgehen, ein schwerfälliger schmutzig gelber Oktobernebel hinter widerlichen Wolken. Er setzte sich erschöpft und mit brennenden Augen auf einen Betonblock am Ende der Straße und sah zu, wie sich die Vögel aus ihren Nestern erhoben und Möwen über dem Meeresarm in der Ferne kreisten, sie schrien dabei wie entrüstete Frauen. Er war bis auf die Knochen durchgefroren. Sein Kopf schmerzte, weil er die ganze Nacht mit den Zähnen geknirscht hatte.
    Er wandte sich um, sah die Straße zurück. Abgesehen davon, dass das ein Sicherheitsrisiko wäre, konnte er auch deshalb kein Taxi rufen, weil er kein Geld hatte, um den Wichser zu bezahlen. Sechs Kilometer bis zur nächsten Tankstelle und er hatte noch zwei Pfund dreiundvierzig. Er war mit
zwanzig Pfund losgegangen, hatte aus Gründen der Sicherheit seine Karten zu Hause gelassen und den Grossteil der Kohle im China-Imbiss gelassen.
    Als er das wenige Kleingeld aus der Tasche fischte, betrachtete er seine Hände. Schmierig vom Chinafraß. Dreckig. Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. Der Schmutz verband sich zu einer Masse, die er zu schmierigen Röllchen formte. Braun. Er betrachtete sie genauer, rieb seine Fingerspitzen in seine Handfläche. Es war Blut. Junkieblut mit Chinafett. Das hatte er gegessen. Der Magen drehte sich ihm um: widerlich. Könnte Hepatitis oder Aids oder so was drin sein. Er sah zur Sonne, als sei diese dafür verantwortlich. Ekelhaft. Er sagte es laut, um nicht so allein zu sein: »Ekelhaft.«
    Die Sonne hatte Mühe sich an dem bedeckten Himmel zu behaupten und er sah sich zwischen dem Schrott auf dem Vorplatz vor Breslin’s um. Kinder waren hier gewesen, hatten jedes einzelne Fenster eingeworfen und die Mauern mit Wandfarbe beschmiert. Schmutzige Wörter hatten sie geschrieben: Scheiße, Arsch, dann waren ihnen die Ideen ausgegangen und sie hatten die Farbe einfach mit einem Riesenplatscher an die Wand geworfen. Der Eimer lag noch da. Magnolie hochglänzend.
    Eddy sog Luft durch die Zähne, durchlebte noch einmal seine verfluchte Mahlzeit. Er hatte die leeren Behälter vom Imbiss dort liegen lassen, Ratten würden kommen und vielleicht das Gesicht fressen. Der Gedanke drehte ihm den Magen um, aber er tat, als sei es nicht so, indem er die Stirn runzelte. In den Filmen fraßen sie immer die Gesichter der Menschen, aber möglicherweise stimmte das gar nicht. Wenn sie es täten, wäre das gut. Nicht

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